Noch vor kurzem hätte man es für unmöglich gehalten: Unter einem SPD-Kanzler und einem grünen Außenminister erlebt die Bundesrepublik kurz vor Weihnachten einen schweren deutsch-polnischen Konflikt. Auch wenn die EU-Verfassung kommendes Jahr doch noch irgendwie zustande kommt – in den Beziehungen zwischen Berlin und Warschau steckt der Wurm. Gewiß sind die Polen nicht allein schuldig – aber es ist bemerkenswert, daß sie sich jetzt, fast anderthalb Jahrzehnte nach dem Untergang des Kommunismus, so verhalten, wie man es im Grunde während ihrer ganzen Geschichte von ihnen gewohnt war. Dieses begabte, oft tapfere, dann aber oft jeden Realitätssinns bare Volk, wußte sich stets in großen, heroischen Gesten zu inszenieren. Wenn nun im Streit um die Gewichtung der einzelnen EU-Länder aus Warschau der Ruf ertönte: entsprechend den Beschlüssen von Nizza „oder der Tod“, dann kommen einem jene polnischen Ulanen in den Sinn, die beim deutschen Angriff 1939 in die feindlichen Panzer hineinliefen, weil sie glaubten, diese seien Attrappen aus Pappe. Auf der anderen Seite reagierte das offizielle Berlin recht ähnlich wie seinerzeit das Königreich Preußen gegenüber den unberechenbaren Insurgenten der (meist antirussischen) polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts. „Wir sind in dieser Frage nicht beweglich“, so Gerhard Schröder letzte Woche kühl, „man“ habe die Polen auf Händen in die EU getragen, man habe ihnen alle Hindernisse aus dem Weg geräumt – und jetzt diese Undankbarkeit. Zuerst hätten die Polen mit dem ihnen zusätzlich beim EU-Gipfel in Kopenhagen versprochenen Geld US-Flugzeuge statt des Eurofighters gekauft. Dann hätte Warschau im Irak-Krieg für die USA Partei ergriffen – und jetzt wollten sie auch noch gleichviel Stimmen wie das doppelt so einwohnerreiche Deutschland! Nun haben der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski und Premier Leszek Miller den EU-Verfassungsgipfel platzen lassen. Wenn das nicht „Undank“ war – zumal die Polen erst ab 2004 Vollmitglied sind! Doch die Vetos haben in der polnischen Geschichte Tradition: Das „Liberum Veto“ war im alten Reichstag, dem Sejm der „Rzeczpospolita“ – des polnischen Adelskönigtums -, das verbriefte Recht eines jeden Sejm-Mitglieds, sich gegen einen Beschluß auszusprechen und ihn mit einer einzigen Stimme – seiner eigenen – zu Fall zu bringen. Dieses Prinzip hat nicht wenig dazu beigetragen, Polen durch die diversen Teilungen über ein Jahrhundert von der Landkarte verschwinden zu lassen. Der polnische Kleinadel (Szlachta) spielte seine Privilegien bis zum Exzeß aus – im naiven Glauben, ihm könne keiner etwas anhaben. Am Ende verwandelte sich das Vetorecht in ein Instrument der Selbstzerstörung Polens. Man muß nicht unbedingt so weit gehen, um eine lineare Wiederholung solcher Entwicklungen vorauszusagen. Wohl aber zeigt sich, daß es durchaus einen Volkscharakter gibt: die Deutschen reagieren wie Deutsche, die Polen wie Polen. Beide sind einander fremd und mögen sich nicht. Je mehr da von Versöhnung geredet wird – desto ernüchternder die Wirklichkeit (siehe in JF 40/03 die gehässige Fotomontage von Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach in der polnischen Wprost). Es war scheinbar leicht, mit einem Federstrich die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Aber die nicht verarbeitete Vergangenheit schwebt noch im Raum – jahrhundertelang.