Die intensiv anmutende Auseinandersetzung um die in den sogenannten Rosenholz-Dateien erfaßten westdeutschen IM’s der Stasi weckt ein weiteres Mal ernste Zweifel an der Bereitschaft zu einer gründlichen Aufarbeitung der Vergangenheit des DDR-Sozialismus und seiner westdeutschen Sympathisanten. Sie konzentriert sich in den alten Bundesländern auf einen relativ begrenzten Personenkreis. Damit wird das Problem personalisiert und unter dem Rubrum „menschliche Unzulänglichkeit“ abgehandelt, das es zu allen Zeiten und in allen Ländern gegeben hat. Man denke nur an die wochenlange, teilweise überaus einfühlsame Diskussion um den als IM geführten Schriftsteller Günter Wallraff. Auf diese Weise wird von der Tatsache abgelenkt, daß es sich auch – und gerade – in den alten Bundesländern um ein verbreitetes gesellschaftliches und politisches Problem handelt, und nicht nur in den neuen Ländern! Wo bleibt die intellektuell-politische Auseinandersetzung mit den westdeutschen Publizisten und Literaten, Professoren und Kirchenleuten, Gewerkschaftern und Politikern und sonstigen Wahlverwandten der SED, die in keiner Akte geführt wurden, obwohl sie in einer „Verantwortungsgemeinschaft“ mit der DDR für „Frieden und Sozialismus, gegen Krieg und Faschismus“ kämpften? Sie findet nicht statt, weil sich die Linke in ihrer großen Mehrheit dieser Herausforderung nicht stellt. Das Problem liegt nicht darin, ob jemand – aus welchen Motiven auch immer – im Dienst einer angeblich entarteten Ideologie gestanden hat, sondern ob er willens und fähig ist, sich endlich aus dem Bannkreis der von ihr gesetzten Maßstäbe politischen Denkens und Handelns zu lösen. So wichtig die Beachtung der Stasiakten auch ist, sie dürfen nicht das einzige Kriterium politischer Beurteilungen sein. Die bisherige Auseinandersetzung erinnert an den einstmals bedenkenswerten, inzwischen pervertierten Grundsatz der alten Römer: „Quod non est in actis, non est in mundo“ – „Was nicht in den Akten steht, ist nicht in der Welt“. Die künftige Auseinandersetzung sollte berücksichtigen, was Jürgen Kuczynski, einer der wenigen marxistischen Intellektuellen, die sich die Fähigkeit zu selbständigen Denken bewahren konnten, Anfang der achtziger Jahre bemerkt hat: „Ich würde sagen, die Folgen der ‚Stalinzeit‘ sind heute noch in vielen von uns, sicherlich auch in mir spürbar, ohne daß wir uns dessen bewußt sind.“ Es sollte demnach alles getan werden, um diesen Sachverhalt einem breiten Publikum bewußt zu machen. Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.