Heinrich Heine, dessen 150. Todestag gerade begangen wird, attestierte seiner kurzzeitigen Wahlheimat Göttingen einst wenig schmeichelhaft, sie sei „berühmt für ihre Würste und Universität“. Seither hat sich viel verändert, beide Qualitätsprodukte zehren nur mehr von ihrem in der Vergangenheit erworbenen Ruf. Doch die Stadt, die besagter Dichter am schönsten fand, „wenn man sie mit dem Rücken ansieht“, beherbergt seit Anfang Februar eine neue Attraktion: die „bundesweit erste und einzige genossenschaftlich organisierte Lokalzeitung“, wie die Redakteure der Göttinger Wochenzeitung stolz verkünden. Nun könnte, wer solches liest, meinen, die Bewohner Göttingens befänden sich in einer publizistischen Wüste. Dabei türmen sich in jedem Copyshop, jeder Döner-Bude die Druckerzeugnisse stapelweise; die – kostenlose – Angebotspalette reicht von den unvermeidlichen hochglänzenden „Szene“-Magazinen bis zu den Faltblättern, die den Linksradikalismus in seiner ganzen Bandbreite widerspiegeln und für kurzweilige Unterhaltung zwischen Tonerstaub und Frittenfett sorgen. Daneben findet jeder Briefkasteninhaber zweimal die Woche unaufgefordert Gratiszeitungen, in denen die Trennung von Nachricht und Werbung nicht allzu strikt gehandhabt wird. Doch die Göttinger Wochenzeitung soll sich von alledem abheben, soll „eine ernstzunehmende publizistische Ergänzung zu den etablierten Lokalmedien bieten“, wie es in den Vorgaben der Genossenschaft heißt. Das Vorhaben hat zweifelsohne seine Berechtigung, da es unter den dortigen etablierten Printmedien strenggenommen keine Konkurrenz gibt; der Raum Südniedersachsen wird beherrscht vom Hause Madsack (an dem die SPD-Holding DDVG beteiligt ist), das neben der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung auch den überregionalen Teil des ortsansässigen Göttinger Tageblatts beliefert. Mit der in Kassel erscheinenden Hessisch-niedersächsischen Allgemeinen ist eine Art Stillhalteabkommen vereinbart, dem gemäß man sich aus der Einflußsphäre des jeweils anderen Blattes heraushält. Da kann nur begrüßt werden, wenn „engagiert, hintergründig, kritisch und frech … die Themen dieser Stadt aus neuer Perspektive“ betrachtet werden, wie das Editorial der Göttinger Wochenzeitung verspricht. In ihren Grundsätzen betonen die Zeitungsmacher, hinter denen 315 Mitglieder der eingetragenen Verlagsgenossenschaft stehen, die Bedeutung medialer Vielfalt, „denn nur sie bietet den Menschen die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Sichtweisen zu entscheiden“, und es ist ihnen beizupflichten, daß Zeitungen „ein Stück Alltagsdemokratie“ sind. Um so unverständlicher, warum es in derselben Zielsetzung sogleich einschränkend heißt, die Göttinger Wochenzeitung wolle eine „linksliberale“ sein. Da sich das etablierte Göttinger Tageblatt kaum anderslautend politisch verorten läßt, werden „Vielfalt“ und „Demokratie“ wohl etwas zu eng ausgelegt. Doch die Selbstbeschreibung und -bescheidung geht noch weiter, wenn es heißt, man wolle „dabei vor allem diejenigen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereiche beleuchten, die in der bisherigen Berichterstattung zu kurz kommen“. In der Praxis der beiden bisher erschienenden Ausgaben sieht dieser Schwerpunkt wie folgt aus: Hartz IV, Gewerkschaften, Bleiberecht für Migranten, Historisches zur Arbeiterbewegung, Bündnis gegen Rechts und der Gedenktafel-Streit für namibische „Völkermord-Opfer“ etc. pp. Desweiteren hat sich die Göttinger Wochenzeitung in ihrem Redaktionsstatut neben dem Eintreten für Menschenrechte und gegen Diskriminierung noch eine Sprache verordnet, „die emanzipatorischen Ansätzen Rechnung trägt“. Solche „Ansätze“ tragen vielleicht der Emanzipation (wessen eigentlich?) Rechnung, der deutschen Grammatik und Orthographie tun sie jedoch Gewalt an. Ein Beispiel: „Als nicht BetroffeneR mag man sich fragen, ob Angestellte und ArbeiterInnen …“ – für dieDen betroffeneN LeserIn ein Graus. So lassen Sprache und Themenwahl vermuten, daß die Selbsteinschätzung der Redaktion, linksliberal zu sein, ohne den Appendix wohl treffender gewesen wäre. Gehören zu ihr doch Attac-Funktionäre und mittlerweile etwas angegraute Altherren (und -damen!) ehemaliger Antifa-Grüppchen. So wird sich die als Zielgruppe ins Auge gefaßte Leserschaft vor allem aus jenem eingeschränkten Klientel von „Vielfalt“ und „Demokratie“ zusammensetzen, der altersmäßig den fotokopierten Faltblättern zwar entwachsen ist, das von ihnen vermittelte Lebensgefühl allerdings nicht ganz missen möchte. Die 2,20 Euro teure und 32 Seiten umfassende Ausgabe kommt derweil mit einem bemüht „frischem“ Layout auf hochwertigem Papier daher und bietet neben einem redaktionellen Teil einen aktuellen Veranstaltungskalender. Internet: www.goettinger-wochenzeitung.de
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