Die Modemesse „Bread&Butter“ hat es vorgemacht, als sie von Köln nach Berlin wechselte. Diesem Trend in die deutsche Kapitale folgte im vergangenen Jahr auch die Branchenmesse der Popmusikindustrie. Allen Umsatzeinbrüchen und Unkenrufen zum Trotz wächst diese dennoch. Wenn die Popkomm vom 14. bis 16. September 2005 wieder in Berlin ihre Pforten öffnet, werden mit 730 Ausstellern 70 mehr als im Vorjahr mitmischen. Unter ihnen wird auch Tim Renner (JF 42/04) zu finden sein, der – nicht ganz zu Unrecht – als Prophet der Popindustrie beschrieben wurde. Als solcher stellte er eine simple Gleichung auf: der zufolge sei Pop = Kunst + Kapital x Massenmedien. Schlagzeilen machte er zuletzt, als er im Frühjahr 2004 den Chefposten von Universal Deutschland niederlegte. Seine im Anschluß daran veröffentlichte brillante Analyse der Musikindustrie, in der er deren Genesis, Gegenwart und Zukunft beschreibt, erfuhr dagegen in den Medien kein gebührendes Echo. Klassische Vertriebswege verkümmern zusehends Unter dem Titel „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!“ (Campus-Verlag, 2004), der eine Titelzeile der Gruppe Palais Schaumburg zitiert, hatte Renner ein bibelartiges Manifest verfaßt. Es schildert in zwei Teilen die Vergangenheit und die notwendigen Veränderungen der Medienindustrie, die vor einem gewaltigen Umbruch steht. Während die großen Plattenfirmen, TV-Sender, Filmproduktionsfirmen und Verlage ihre Macht verlieren, bricht sich allmählich die Erkenntnis Bahn, daß künftig die Kunden das Geschehen immer stärker selbst bestimmen werden. Klassische Vertriebswege verkümmern zusehends, während sich neue, zunächst nahezu unbeachtet, entwickeln. Ein klassisches und zugleich folgenschweres Beispiel für die Behäbigkeit der Musikindustrie schildert Renner aus eigenem Erleben: Als er 1994 erstmals auf der ersten internationalen Management-Tagung der PolyGram teilnehmen durfte, hielt Nicholas Negroponte, der Gründer und Leiter des legendären Media Laboratory am Massachusetts Institute of Technology, einen wegweisenden Vortrag, in dem er prognostizierte, wie durch Datenkompression und sogenannte „Peer-to-Peer-Netzwerke“ in zehn Jahren schon die Hälfte aller Musiktitel über das Netz kommen würde. Bezeichnend war die Reaktion, die für die inzwischen eingetretene massive Krise der Musikindustrie wesentlich mitverantwortlich sein dürfte; man verschlief die technologische Revolution im wahrsten Wortsinn: Während ein Geschäftsführer während des Vortrags einschlief, begannen andere zu plaudern. Als Negroponte gegangen war, entschuldigte sich der Vorstandsvorsitzende bei seinen Mitarbeitern und disqualifizierte das eben Gehörte als puren Quatsch, weil der Mensch an sich doch haptisch veranlagt sei. Am Ende aber hatte selbst Negro-ponte unrecht: Bereits sieben Jahre später kamen mehr Titel aus dem Netz als über die Ladentheke. Inzwischen versucht die Industrie nachzuziehen und entwickelt diverse Download-Angebote. Neben der Notwendigkeit, neue Kommunikations- und Verkaufsstrategien zu entwickeln, forderte Renner in seiner Bestandsaufnahme des Musikgeschäfts auch die stärkere Übernahme von persönlicher Verantwortung, das Bekenntnis zu authentischen und lokalen Produkten. Ein geradezu vorbildliches Beispiel hierfür sind etwa die Projekte des Musikmanagers und Buchautors Christian Hentschel. Dieser hatte während des Casting-Fiebers dargelegt, wie man als junger Musiker in das Musikgeschäft hineinwächst. Bezeichnenderweise hieß seine Musikerfibel denn auch „Popstar in 100 Tagen“, wohlgemerkt: nicht für hundert Tage. Neben seiner Tätigkeit als Konzertmanager feierte er diesen Sommer das einjährige Bestehen der von ihm wiedergegründeten Zeitschrift melodie & rhythmus. Die größten Osthits in neuen Versionen Diese war einst die einzige Musikzeitschrift der DDR (1957-1991) und ist nun das erste gesamtdeutsche Musikmagazin. Schließlich ist ein beständiger Blickwinkel der Musikerszene der ehemaligen DDR gewidmet, die sich seit der Wende in der Medienlandschaft größtenteils nicht mehr wiedergefunden hatten. Einzelkämpfer Hentschel hat auch das Plattenlabel Dunefish gegründet, auf dem er sich nicht zuletzt um das musikalische Erbe des Ostrocks kümmert. So erschien dort die letzte Soloplatte von André Herzberg („Losgelöst“) und ein Album, das „die größten Osthits in neuen oder gecoverten Versionen“ versammelte. Es damit ins Radio zu schaffen, ist aber schwer. Denn die gesetzlich geforderte Neuheiten-Quote, der zufolge 50 Prozent der Lieder neu sein müssen, und von denen wiederum die Hälfte deutschsprachig oder deutsche Produktionen sein müssen, wird von den öffentlich-rechtlichen Sendern weitgehend ignoriert. Das nun wird Tim Renners Thema sein, der auf der Popkomm an einer Diskussion zum „New Radio: Who kills the Radio Star“ teilnimmt.
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