Es ist Krieg – und keiner guckt hin. Fast unbemerkt dümpelt der von Endemol-Chef Borris Brandt groß angekündigte Big-Brother-Aufguß „The Battle“ täglich ab 19 Uhr auf RTL 2 dahin, der Lokalsender tv.münchen bietet sogar eine Zweitverwertung des Reality-Mülls: Braungebrannte Gestalten liegen am Pool herum und streiten sich um den Platz an der Sonne, um den Pseudo-Luxus vor den Fernsehkameras. Die Zuschauer ignorieren sie und fahren lieber selbst in den Urlaub, sogar die Medien schweigen diesmal. Vermeintliche Superstars sind allemal attraktiver als lethargische WG-Insassen, Daniel Küblböck stiehlt Zlatko locker die Show! Der ehemalige Endemol-Programmchef Axel Beyer, verantwortlich für die erste Staffel von „Big Brother“, ist seit April 2003 wieder WDR-Unterhaltungschef. „Sicher ist die Unterhaltungskompetenz, große Events zu veranstalten, weitgehend an die Privaten gegangen“, verriet er jüngst in einem Zeitungsinterview. „Weil es in einem Programm, das rund um die Uhr auf Unterhaltung ausgerichtet ist, leichter fällt, eine Show zum Erfolg zu machen.“ Der Erfolg bleibt bei „The Battle“ allerdings weitgehend aus – und das ist gut so. Merchandising-Artikel wie T-Shirts, Bett- und Unterwäsche oder CDs stapeln sich in den Regalen, die junge Generation hat längst andere Clowns und Helden. „Früher waren die Talkshows die einzigen Formate, die die Abgründe des Alltagslebens live nach Hause brachten“, wußte Fred Kogel, früherer KirchMedia-Manager und jetziger Vorstandsvorsitzender von Constantin Film, schon vor einiger Zeit. „Jetzt drehen andere Formate dieses Rad weiter.“ Schließlich sei es heute nichts Besonderes mehr, über Privates und persönliche Probleme zu reden, der „Sozialporno“ „Big Brother“ leistete hier ganze Arbeit. Seitdem ist nichts mehr unmöglich, nichts zu peinlich, um nicht gesendet zu werden, Kameras zoomen ungehemmt in die intimste Privatsphäre von TV-geilen Möchtegernstars. Extreme Varianten des Echte-Leute-Fernsehens stehen unmittelbar bevor, beispielsweise sollen fünf Kandidaten aneinandergekettet eine ganze Woche vor den Fernsehkameras verbringen. RTL 2-Geschäftsführer Josef Andorfer kann sich sogar vorstellen, das Aufwachsen eines Menschen von dessen Geburt bis ins hohe Alter fürs Fernsehen aufzubereiten. Schließlich vermittle eine Show wie „Big Brother“ mehr Werte menschlichen Zusammenlebens, als es sonst in Filmen oder Serien geschieht. Kein Wunder, daß sich die ARD zum „Schwarzwaldhaus“ und das ZDF demnächst zum „Sternflüstern“ inspirieren läßt: Zwei Familien werden in ein sibirisches Dorf geschickt, um drei Monate lang unter kargsten Bedingungen gegen Kälte, Hunger und Einsamkeit anzukämpfen – die Ergebnisse gibt es ab Anfang 2004 im geheizten Wohnzimmer, wahlweise bei Chips und einem guten Glas Wein. RTL 2 hat für den 14. Juli einen „Frauentausch“ angekündigt: In sechs Folgen werden immer montags um 20.15 Uhr zehn Tage lang Mütter mit neuen Männern und Kindern unter einem Dach wohnen – der Zuschauer spekuliert natürlich auf den nächtlichen Tabubruch. Bei Erfolg würde das Format unter dem Sendetitel „Hausfrauentausch“ ab Herbst 2003 im RTL-Programm laufen. Die schmutzige Vorarbeit überläßt man lieber dem kleinen RTL 2-Bruder. „Formate wie Big Brother werden sich durchsetzen und bald in ganz Europa gang und gäbe sein“, prognostizierte RTL-Geschäftsführer Gerhard Zeiler zu „Big Brother“-Zeiten. „Menschen, die unter anderen Umständen nicht ins Fernsehen kommen würden, haben eine Möglichkeit, Stars zu werden.“ Wie recht er behalten hat! Der Fernsehzuschauer ist schon jetzt mengenmäßig vom derzeitigen Angebot an Superstars, Boros und Hausfrauen überfordert. „Es ist wie beim Autofahren“, vergleicht Kogel. „Man probiert immer, ob es noch ein wenig schneller geht. Aber irgendwann fliegt der Wagen aus der Kurve.“ Das Fernsehpublikum quittiert das Tempo, mit dem die Reality-Soaps täglich auf den Bildschirmen erscheinen, mit einer strikten Selektion und einem zunehmenden Sättigungsgrad. Eine willkommene Abwechslung bieten hier Fernsehformate, die einen noch direkteren Bezug zum Alltag des Zuschauers erlauben. Natürlich steckt genaues Kalkül dahinter, wenn zum Beispiel beim „Schwarzwaldhaus“ auf historisch-soziale Werte oder beim „Frauentausch“ auf den Sex-Faktor gebaut wird. Während Reality-TV in den USA noch immer als Zukunftsmodell des Fernsehens gepriesen wird, findet es in Deutschland meist auf Nebenschauplätzen statt. „Auf Emotionen hat das Unterhaltungsfernsehen schon immer gesetzt“, glaubt Axel Beyer. „Neu ist die Lust an Extremen. Die kommt wohl aus einem gewissen Überdruß. Wenn Menschen freiwillig von einer Brücke springen nur mit einem Seil am Fuß, dann tun sie das doch, weil sie meinen, alles schon erlebt zu haben.“ Für Beyer funktioniert das Real-Life-Thema im Fernsehen nur, weil es ein Leben aus zweiter Hand sei und die Menschen das eigentliche Leben gar nicht mehr als so einzigartig wahrnähmen. Wenn Jürgen Möllemann mit dem Fallschirm verunglückt, gibt es neben der nackten Nachricht eine zweite, virtuelle Interpretationsebene. Diese sucht das Echte-Leute-Fernsehen mit seinen bescheidenen Mitteln. „Jeder hat eine Meinung – das ist der Preis der Demokratie“, konstatierte Sat.1-Entertainer Harald Schmidt in einem Spiegel-Interview. „Sie wird sofort gesendet und, wenn sie besonders kultig ist, gibt’s eine eigene Show. Wer da Schuldgefühle hat, der muß halt Schwanitz‘ ‚Bildung‘ kaufen. Ich habe von Philip Roth gelernt.“ Und der Erfolgsautor formuliert das so: „Was, wenn die Welt eine Art Show wäre? Was, wenn wir alle nur Talente wären, von großen Talentsuchern dort oben zusammengestellt? Die große Show des Lebens! Jeder ein Schauspieler! Was, wenn Unterhaltung der Sinn des Lebens wäre!“ So erscheint das Echte-Leute-Fernsehen à la „The Battle“, „Superstars“ und „(Haus-)Frauentausch“ als eine Art moderne Version von Samuel Becketts „Warten auf Godot“: Man wartet, nur worauf?
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