„Amen.“ Andächtig kniet der ältere Herr vor dem Marienschrein, schlägt das obligatorische Kreuz vor der Brust, dreht sich um und geht wieder. Er hat soeben vor dem vermutlich weltweit einzigen katholischen Heiligtum für professionelle Rennradpiloten gebetet. Es befindet sich in der Nähe des flämischen Nestes Maarkedal in der belgischen Provinz Ost-Flandern mitten in den Feldern. Ein Gag der Katholischen Kirche?
Auf jeden Fall aber eine Pilgerstätte nicht nur für gläubige Radsportfreunde, sondern gleichfalls für zumeist ziemlich belustigte Urlauber. Der Schrein säumt den Omer-Wattez-Wanderweg, welcher nach einem ost-flämischen Heimatdichter benannt ist. Er führt durch die älteste mitteleuropäische Kulturlandschaft: bestehend aus Weilern, Hügeln und weiten Ackerflächen. Abgesehen von gelegentlich anzutreffender moderner Architektur in Form von umgebauten alten Landgütern, hat sich in den vergangenen Jahrhunderten nicht allzu viel verändert.
Manche Aussichten muten an wie ein Bild von Brueghel. Von der höchsten Erhebung aus kann man bis nach Frankreich hinüberschauen. In der Ferne ragt ein von den Truppen Napoleons erbauter Turm aus den Wäldern hervor – das Wahrzeichen der Kluisbergen. Rund 30 Kilometer von hier entfernt verlief vor knapp 2.000 Jahren einmal die Via Romana, die antike, heute beradelbare Heerstraße vom flämischen Velzeke ins französische Bavay (Unterteil der Heerstraße Köln-Paris), die ein Denkmal von Julius Caesar schmückt. Einstmals von großer historischer Bedeutung, scheint das Gebiet heute vergessen; nur noch bei der lokalen Bevölkerung ist es ein beliebtes Wander- und Radelrefugium. Terra Incognita mitten in Europa.
Belgien besteht eher zufällig seit 1830
Schnurgerade Autobahnen. Ewige Staus. 250 Kilometer gepflegte Langweile von der deutschen Grenze bis zur Überfahrt nach England. Manneken Pis, das Atomium, alte Handelsstädte wie Antwerpen und Brügge, vielleicht noch Bier und Pommes Frites mit lustigen Saucen. So sieht zumeist das recht dürftige Bild von Belgien in Deutschland aus. Manche denken vielleicht noch an das Reizthema „Brüssel“; das mag jedoch weniger mit Belgien an sich als mit der reservierten Haltung gegenüber der EU im Allgemeinen zu tun haben.
Belgien! Ehemals Süd-Holland. Eine der jüngsten europäischen Nationen, eher „zufällig“ aus den politischen Wirren des 19. Jahrhunderts hervorgegangen. Nach seiner Entstehung 1830 wurde es widerwillig von einem Monarchen regiert, der die Cote d’Azur seinem eigenen Land vorzog, danach von einem Machthaber verwaltet, der kurzerhand den Kongo zu seinem Privatbesitz erklärte. Katholisch durch und durch. Widersprüchlich. Kompliziert. Vielschichtig.
Ein Land, in welchem die Vertreter dreier völlig verschiedener Kulturen nie so recht zueinander gefunden haben, aber anscheinend auch nicht voneinander lassen können: die der niederländischsprachigen Flamen im Nordwesten, der frankophonen Wallonen im Süden und der deutschsprachigen Minderheit im Osten. Aber Bemerkenswertes? Das Land steht nicht unbedingt repräsentativ für landschaftliche Reize.
Ost-Flandern lockt nicht nur Radsportler
Doch das ist falsch. Es gibt die touristisch stark entwickelte Küste, es locken die Ardennen an der deutschen Grenze oder die Heidegebiete des Nordens- und vor allem: Es gibt die Provinz Ost-Flandern! Bisher noch ein Geheimtipp.
Gut, in Belgien kennt sie jeder: die hügeligen „Vlaamse Ardennen“, aber außerhalb des Landes ist das Territorium fast unbekannt. Hier trainieren Radsportprofis für die berüchtigte Flandern-Rundfahrt. Eddy Merckxs, Tom Boonen und Wout van Aert lassen grüßen. Zur heiteren, spirituellen Ausflugs-Vorbereitung für Seelenverwandte empfiehlt sich das Buch „Quer durch Flandern“ von Harry Pearson. Untertitel: Eine knochenschüttelnde Reise durch das Epizentrum der Radsportleidenschaft.
Doch ohne Veloziped geht’s auch. Durch Ost-Flandern stromern Einsamkeit-Suchende, die abseits vom Trubel in eine noch lebendige Lokalkultur eintauchen möchten. Hier wollen Besucher Idylle erfahren. Sie finden sie in alten Wassermühlen, an verwunschenen Kanälen und in verschlafenen Dörfchen; unter einem unendlichen flämischen Horizont, den schon der berühmte Chansonier Jacques Brel in seinen herrlich melancholischen Liedern „Mijn vlakke land/ Les plat pays“ und „Marieke“ herzerwärmend besang.
Flanders Küche ist eine Reise wert
Wer sich vollends mit der manchmal schwermütigen flämischen Mentalität vertraut machen will, der lese das Belgien-Epos „Der Kummer von Flandern“ vom Jahrhundert-Talent Hugo Claus. Es spielt in einer flämischen Kleinstadt und beschreibt schonungslos die Schmerzhaftigkeit der bis heute schwierigen belgischen Identitätssuche.
Kurz: Wer kein Halli-Galli erwartet, ein offenes Ohr für Zwischentöne hat, Kultur genießen will, gerne radelt, wandert und schlemmt, der kommt hier im grünen Herzen Belgiens voll auf seine Kosten. Es gibt eine ausgeprägte (Rad-) Wander-Infrastruktur. Reisende finden zahllose, gemütliche Unterkunftsmöglichkeiten und das nicht nur in liebevoll ausgestatteten Hotels, sondern auch in aufgemotzten Bauernhöfen und Klöstern.
Dazu kommt eine Gastronomie, die ihre Versprechen hält- im Gegensatz zu so manch etablierter Gourmet-Nation. Ob nun die flämische Karbonade- das „Stoofvlees“, Gentse Waterzooi, ein Fisch- oder Hähnchen-Eintopf, oder natürlich die legendären Pommes Frites, deren klassische Bereitung mit teurem Rinderfett heute allerdings nur noch selten stattfindet – lecker ist alles! Flämische Köche sind zudem extrem experimentierfreudig. Für jeden ist etwas dabei.
Hunderte Brauereien laden zum Besuch ein
Wer vom beschaulichen Landleben irgendwann genug hat, findet unzählige Ausweichmöglichkeiten. Die Gegend wartet mit Kulturstätten wie der magischen mittelalterlichen Stadt Gent oder dem uralten Oudenaarde auf. Rund 400 Bierbrauereien laden zum Besuch ein. Viele davon sind praktisch Einmann-Betriebe. Sie kreieren zum Beispiel Gerstensaft, der mit Kirschsaft gegoren, in offenen Fässern mittels Spontangärung gereift wird: das Gueuze Lambic Kriek.
Und wem das alles noch nicht reicht, der fährt halt schnell zur Küste, besucht Metropolen oder nimmt eines der Mega-Musikfestivals wie Rock Werchter oder Pukkelpop mit. Die Entfernungen sind nie weit. Alles ist in unter einer Stunde erreichbar. Auch Frankreich und Holland.
Ost-Flandern ist ein Kleinod
Sprachlich gesehen ist es jedoch nicht so problemlos wie in den Niederlanden. Deutsch ist nicht sehr verbreitet, obwohl es eine der drei offiziellen Landessprachen ist. Burschikoses Auftreten in der Erwartung, daß Leute einen schon verstehen, wird nicht honoriert. Bei diesem Thema also bitte ein wenig Flexibilität an den Tag legen! Die Nachfahren des keltischen Streiters Ambiorix sind an sich überaus hilfsbereit- aber auch sehr stolz…
Ost-Flandern ist ein schlummerndes Kleinod, das bislang nur von wenigen Auswärtigen geschätzt wird. Hier läßt man sich das gelegentlich geradezu opulente Leben, dem burgundischen Naturell gemäß, so schnell nicht vermiesen. Besucher dürfen, sofern sie wollen, an dieser beneidenswerten Daseinsweise teilnehmen. Fahren Sie doch einfach einmal hin! Es lohnt sich bestimmt.