BERLIN. Die Trennung des Kolumnisten und Schriftstellers Harald Martenstein vom Tagesspiegel hat in den deutschen Medien für Diskussionen gesorgt. Welt-Chefredakteur Ulf Poschard kritisierte den Schritt. „Was mit Harald Martenstein passiert ist, zeigt, daß der Tagesspiegel wenig Lust darauf hat, seine Autoren und Redakteure vor dem Mob zu schützen.“ Martenstein hatte am Sonntag den Tagesspiegel verlassen, nachdem einer seiner Beiträge wegen Antisemitismus-Vorwürfen entfernt wurde.
Auch die taz-Journalistin Silke Mertins griff die Entscheidung des Tagesspiegels an, den Martenstein-Beitrag zu löschen. „Der Kolumnist und Schriftsteller Harald Martenstein hat im Berliner Tagesspiegel einen Meinungstext verfaßt, der der Chefredaktion im Nachhinein peinlich ist. Sie tut dann etwas, was ein Schlag ins Gesicht der Meinungsfreiheit ist: Sie löscht die Kolumne.“ Das sei feige. Man könne in einer Zeitung auch anders mit umstrittenen Artikeln umgehen. „Aber löschen sollte man sie nicht.“
„Spiegel“-Redakteur äußert Unverständnis über Trennung
Verständnis für den Tagesspiegel brachte hingegen der Journalist Matthias Meisner zum Ausdruck. „Es geht nicht um ‘eine’ Meinung liebe Silke Mertins von der taz, sondern um den von Martenstein bestrittenen Antisemitismus auf den Corona-Demonstrationen“, twitterte er am Sonntag. Meisner monierte auch Poschardts Wortmeldung. Dieser stigmatisiere mit seinem Tweet all jene, die sich nicht mit „Neonazis, Corona-Leugnern und Impfgegnern“ gemein machen wollten.
Ein „Mob“ sind demnach all jene, die nicht nachvollziehen wollen, dass der Protest von Neonazis, Coronaleugner:innen und Impfgegner:innen, die mit gelbem Stern „ungeimpft“ bei #Querdenken & Co. unterwegs sind, als „definitiv nicht antisemitisch“ rehabilitiert wird. #Martenstein pic.twitter.com/VO9zP6iH80
— Matthias Meisner (@MatthiasMeisner) February 20, 2022
Der Spiegel-Redakteur Mathieu von Rohr äußerte sich ähnlich. „Er hat selbst gekündigt. Er hat die Seite eins zum Abschied bekommen. Er hat geschrieben, das Tragen der von Nazis eingeführten ‘Judensterne’ sei nicht antisemitisch.“
Martenstein: „Ich bleibe bei meiner Meinung“
In einem Artikel begründete Martenstein am Sonntag seine Entscheidung. „Es ist kein Geheimnis, daß die Chefredaktion des Tagesspiegels sich in aller Form von einem meiner Texte distanziert und ihn gelöscht hat. Ich war in diese Entscheidung nicht eingebunden. So etwas bedeutet in der Regel, daß man sich trennt, den Entschluß dazu habe ich gefällt“, unterstrich der Journalist in dem Blatt. Wo man glaube, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, sei er fehl am Platz. Er bleibe, bei seiner Meinung.
Zuvor hatte Martenstein sich in seiner Kolumne dafür ausgesprochen das Tragen von Judensternen auf Corona-Demonstrationen nicht als antisemitisch zu bezeichnen. Wer den Hitlervergleich bemühe, wolle jemanden als „absolut Böse“ darstellen. „Der ‘Judenstern’ dagegen soll seine modernen Träger zum absoluten Gegner machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch“, betonte er damals.
Die Chefredaktion der Zeitung hatte sich daraufhin von dem Text distanziert. „Wir haben viele Gespräche geführt mit Kollegen, Wissenschaftlern, Betroffenen und dem Autor selbst und sind zu dem Schluß gekommen, daß wir diese Kolumne so nicht hätten veröffentlichen sollen; wir haben diesen einen Beitrag deshalb online zurückgezogen“, erläuterte sie.
Schon zuvor waren Journalisten im deutschsprachigen Raum wegen angeblich untragbarer Aussagen gekündigt worden. So trennte sich beispielsweise die österreichische Boulevard-Zeitung Exxpress von der Journalistin Anna Dobler, nachdem diese betont hatte, die Nationalsozialisten seien Sozialisten gewesen. (fw)