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Was für ein Theater: „Wir brauchen was Positives“

Was für ein Theater: „Wir brauchen was Positives“

Was für ein Theater: „Wir brauchen was Positives“

Vollbart
Vollbart
Vollbart (in diesem Fall von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann): Ein Drama in fünf Akten Foto: picture alliance / dpa Ausschnitt: JF
Was für ein Theater
 

„Wir brauchen was Positives“

Wenn Journalisten eine Weihnachtsausgabe planen, kann einem kalt ums Herz werden. Das Theaterstück spielt in einer fiktiven Zeitungsredaktion irgendwo in Deutschland. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig. Ein Drama in fünf Akten von Ronald Gläser.
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Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Das Stück spielt in einer fiktiven Zeitungsredaktion irgendwo in Deutschland. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig. Anwesend in unserer Musterredaktion sind der Chefredakteur, der Chef vom Dienst, die Redakteure Winzig, Gerling, Engelmann sowie die Volontärin Fräulein Susi und der Praktikant. Die Redaktion kommt zu ihrer Planungskonferenz im großen Konferenzraum zusammen – und das Drama nimmt seinen Lauf:

1. Akt

Der Chefredakteur ruft die letzte Ausgabe auf, die an diesem Nachmittag vorbereitet wird. Es ist die Weihnachtsausgabe, die erscheint, wenn die meisten Kollegen bereits in den Ferien sind. Er schaut in leicht übermüdete Gesichter. „Wir sollten mal wieder was zu Herzen Gehendes machen zu Weihnachten. Was für die Seele. Ich bitte um Vorschläge.“

Fräulein Susi wagt sich sofort aus der Deckung: „Also wir könnten was mit Kindern machen. Armen Kindern. Eine Reportage über die Arche in Ostberlin, über diesen Verein, der Jugendliche in einem sozial schwachen Stadtviertel betreut und  ihnen eine Mahlzeit serviert.“

Schweigen. Niemand sagt etwas, bis der Chefredakteur das Wort ergreift und die Idee auseinandernimmt: „Also das ist mir zu sehr 08/15. Arme Kinder aus dem Plattenbau, das trieft ja von Sozialromantik. Und überhaupt: Was sind das für Rabeneltern, die ihren Kindern nicht selbst etwas zu Essen machen? Da muß es doch was Besseres geben. Hat keiner eine Idee?“

Redakteur Winzig schlägt vor, etwas über die christliche Initiative Weihnachten im Schuhkarton zu machen. Da spenden Mittelschichtsfamilien für Kinder  in armen Ländern Spielzeug und Süßigkeiten. Kaum hat Winzig den Vorschlag ausgesprochen, kommt von seinem Kollegen Gerling der Seitenhieb: „Das ist doch genauso eine Sozialschnulze wie die Arche. Außerdem: Das kennt doch schon jeder. Hat das Hamburger Abendblatt auch gerade eine gaaaaanz große Geschichte drüber gemacht. Ist also alles kalter Kaffe.“

Wirtschaftsredakteur Engelmann schlägt vor, „etwas mit Tieren“ zu machen: „Jedes Jahr geben Deutsche zu Weihnachten 160 Millionen Euro für ihre Haustiere aus, vor allem für Hunde. Jedes zehnte Geschenk kostet mehr als 30 Euro.“ Noch bevor Engelmann seinen Faktenvortrag fortsetzen kann, unterbricht ihn der Chef vom Dienst, der bislang nichts gesagt hat: „Das ist doch auch nichts. Wir brauchen was Positives, keine Story über Bio-Hundekuchen oder Karamellplätzchen für Fifi. Und erst recht nicht über ihre überkandidelten Herrchen.“ Der Chef vom Dienst kratzt sich am Bart, den er sich seit einigen Wochen hat wachsen lassen, und fragt dann: „Haben wir nicht was Originelleres?“

Ratloses Schweigen. Der Chefredakteur spricht ein Machtwort: „Also bis Freitag will ich bessere Vorschläge. Es muß was zu Herzen Gehendes sein. Aber ich will nicht den gleichen Gedanken haben wie am Silvesterabend, wenn ‘Dinner for One’ läuft: schon wieder dasselbe wie letztes Jahr und die Jahre davor.“ Winzig und Gerling sollen sich etwas ausdenken. Der Praktikant soll mal mit den Obdachlosen auf dem Bahnhof reden. Fräulein Susi wird beauftragt, ein Backrezept rauszusuchen. Engelmann will die Ausgaben der letzten Jahre durchblättern, was da so gelaufen ist. Die Sitzung ist beendet.

2. Akt

Nächster Tag: Chefredakteur und Chef vom Dienst sitzen zusammen. Chefredakteur: „Seit wann rasierst du dich eigentlich nicht mehr?“ – „Ach seit ein paar Tagen. Mal sehen, wie lange ich das noch aushalte. Beziehungsweise Barbara. Dann kommt er wieder ab.“ – „Soso.“

Am Nebentisch sitzen die Redakteure Winzig und Gerling. Winzig kommt auf die Weihnachtsausgabe zu sprechen: „Hast du noch eine zündende Idee für diese Weihnachskiste?“ „Ich telefoniere Promis ab, ob sie eine Art Weihnachts-Homestory mit uns machen.“ „Ich sehe schon die Schlagzeile: Weihnachten mit Helene Fischer. Das wäre ein Knüller.“ – „Ja, aber die hat abgesagt wegen ihrer Tournee. Jetzt bin ich dabei, die C-Promis abzuklappern, hatte gerade die Tochter von Roberto Blanco am Telefon.“ – „Geht die nicht im Januar ins nächste RTL-Dschungelcamp?“ – „Kann sein, jedenfalls hat sie auch abgesagt.“

3. Akt

Die nächste Konferenz. Chefredakteur: „Winzig, was haben Sie mit Engelmann vorbereitet?“ – „Wir haben einen Promi für eine Homestory gefunden: Agnes Mandelmann-Birkenschuh“, erklärt Winzig freudestrahlend. „Wer ist denn das?“ „Na, die Fraktionsvorsitzende der FDP im saarländischen Landtag.“ – „Eine Provinzpolitikerin, die uns erzählt, wie sie Weihnachten feiert?“ – „Ja, und sie ist bereit, das Plätzchenrezept von Fräulein Susi als ihres auszugeben. Wir können auch Fotos von allem machen. Mit Mehlstaub in der Küche, an Fingern klebendem Teig und so.“

Der Chef vom Dienst verliert die Beherrschung: „Eine Frau, die keiner kennt aus einem Bundesland, das kaum größer als ein Lidl-Parkplatz ist. Und dann noch von der FDP. Gibt’s nichts Besseres? Praktikant, haben Sie was?“ Der nuschelt leise: „Ich habe mit den Obdachlosen gesprochen. Das waren Deutsche und Polen. Für eine Flasche Wodka hätte ich sie auch fotografieren können. Aber leider machen sie sich nichts aus Weihnachten.“

Der Chefredakteur runzelt die Stirn. „Wir brauchen was Originelles.“ Dann dreht er sich zum Chef vom Dienst: „Wolltest du nicht demnächst deinen Bart abrasieren? Wie wäre es, wenn wir daraus eine Spendenaktion machen? Ich sehe schon die Schlagzeile: Topjournalist versteigert seinen Bart bei Ebay und spendet Erlös für guten Zweck, meinetwegen für die Arche oder so. Wenn wir gut genug trommeln, wird der eine oder andere Leser was bieten. Und wenn nicht, dann schicken wir eben selbst jemanden los, der was bietet.“

Alle sind sofort begeistert. Winzig: „Da sorgen wir für die richtige Verzahnung Print-Online per Livestream auf unserer Webseite.“ Gerling: „Ja und wir machen eine Facebook-Gruppe ‘Bart ab’ auf.“ Engelmann: „Nach der Ice Bucket Challenge bin ich sicher, daß wir damit groß rauskommen.“ Fräulein Susi: „Ich sag’ den Onlinern Bescheid.“

4. Akt

Vor laufender Webcam wird dem Chef vom Dienst der Bart abgeschnitten. Der eigens angeheuerte Barbier trägt eine Schürze mit dem Logo der Zeitung. Keiner sagt ein Wort, bis der Barbier fertig ist. Dann ruft er: „Es ist vollbracht.“ Alle klatschen. Der Server bricht zweimal zusammen, weil sich zu viele Nutzer gleichzeitig einwählen.

5. Akt

Die erste Konferenz nach der Weihnachtspause. Strahlende, erholte Gesichter. Der Chefredakteur zählt die Vielzahl an positiven Artikeln der Konkurrenz über die Bart-ab-Aktion auf: „Selbst ein Spiegel-Online-Kolumnist hat unsere Spendenkampagne erwähnt. Von den Artikeln in den zahlreichen Branchendiensten ganz zu schweigen. Leute, wir hatten den richtigen Riecher mit  dieser Nummer. Danke euch allen.“

Der Praktikant beugt sich zu Engelmann, flüstert: „Aber das hatte doch alles gar nichts mit Weihnachten zu tun.“ Engelmann: „Sie müssen noch viel lernen. Über das Berufsleben im allgemeinen – und die Medienbranche im besonderen.“

JF 52/14-01/15

Vollbart (in diesem Fall von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann): Ein Drama in fünf Akten Foto: picture alliance / dpa Ausschnitt: JF
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