In ihrer nun auch auf deutsch erschienenen Autobiographie zeichnet Giorgia Meloni den Weg von der Außenseiterin aus einem römischen Arbeiterviertel zur mächtigsten Frau Italiens nach. Persönliche Erlebnisse werden dabei zu politischen Bekenntnissen – und zeigen, warum die heute 48jährige Meloni die Hoffnungsträgerin einer neuen, identitätsbewußten europäischen Rechten ist.
Es gibt sie: Bilder und Videos von der jungen Giorgia Meloni. Mit schwarzer Lederjacke, Medaillon und bemerkenswert ernster Miene für eine Jugendliche. Der Look ist eine Mischung aus rechter Rebellin und der FBI-Agentin Scully aus der Fernsehserie „Akte X“. Kurz vor den italienischen Parlamentswahlen 2022 kursiert in den sozialen Medien eine Reportage des französischen Fernsehsenders France 3. Sie stammt aus dem Jahr 1996. Darin wird die junge Aktivistin der Alleanza Nazionale vorgestellt. Die 19jährige Meloni spricht auf französisch, hebt hervor, daß Benito Mussolini ein guter Politiker für Italien war. Er habe wenigstens an das Land gedacht.
Una giovane Giorgia Meloni durante la campagna elettorale del ‘96 racconta quali sono i suoi riferimenti politici. pic.twitter.com/9UJG3aETsY
— Omar (@whilecromar) August 16, 2022
Die politische Linke hat dieses Video damals hervorgehoben, im Nachgang der Wahl wurden auch außeritalienische Medien darauf aufmerksam – paßte es doch in das „postfaschistische“ Narrativ und die Hysterie, die die Wahl auslöste. Nach beinahe drei Jahren hat sich keine einzige Befürchtung erhärtet.
Feinde sehen in Meloni einen Merkel-Verschnitt
Vielmehr steht Italien heute stabiler denn je da. Es hat Frankreich die Führungsrolle auf dem Kontinent streitig gemacht – in außenpolitischen Querelen um die Ukraine, bei den Intrigen in Brüssel und im wirtschaftlichen Tauziehen um den italienisch-französischen Autokonzern Stellantis. Dort ist die Ära des frankreichfreundlichen Carlos Tavares zu Ende gegangen, der mit Rom im Clinch lag. Sein Nachfolger als CEO ist der Neapolitaner Antonio Filosa.
Das haben Insider vielfach als Kurswechsel zugunsten der Meloni-Regierung verstanden. Als fünftgrößter Autokonzern mit Marken wie Fiat, Peugeot, Opel und Jeep ist Stellantis für Rom wie Paris unverzichtbar. Das italienische BIP pro Kopf ist an das Niveau Frankreichs herangerückt – auch wenn die Gräben beim Gesamt-BIP groß bleiben.
Während in Deutschland die Ampel rumpelte, war Meloni Gastgeberin der G7 und rückte Italien aus dem außenpolitischen Abseits wieder in die Nähe relevanter Mächte. Unter Scholz verzwergte Berlin, Meloni fädelte stattdessen Freundschaften mit Elon Musk, Javier Milei und Donald Trump ein. Teilen der deutschen Rechten war Meloni dagegen unangenehm. AfD-Chef Tino Chrupalla sprach von „Melonisierung“ wegen vermeintlicher Anbiederung oder Unterwerfung, Aktivisten warfen ihr gar vor, ein Merkel-Verschnitt zu sein, der als eine Art U-Boot fungiere.

„Ich bin Giorgia“ verhalf der Fratelli-Frau zum Erfolg
Daß die italienische Rechte traditionell trans-atlantisch und anti-russisch orientiert ist – das war auch unter Giorgio Almirante, dem Gesicht des postfaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) der Fall –, ist für die „multipolar“ tickende Zunft schwer verständlich. In Italien hat sich die Rechte mit den unterdrückten nationalen Bewegungen des Ostblocks identifiziert, der Befreiungskampf der Ungarn und Polen wurde als Kampf der Völker Europas wahrgenommen. Auch in diesem Licht ist die freundliche Bindung zur Fidesz oder der PiS zu verstehen – mit letzterer dominieren Melonis Fratelli d’Italia (FdI) die Fraktion der EKR im EU-Parlament seit Jahren.
Die Dämonisierung Melonis von der linken Seite und die Gerüchtebildung auf der rechten Seite hat mehr außerhalb denn innerhalb Italiens merkwürdige Blüten getrieben. Grund dafür ist die Wahrnehmung Melonis als Unbekannte. Dabei hat sie die politische Landschaft ihrer Heimat zumindest in den letzten zehn Jahren mitgeprägt. Sie war Aushängeschild der rechten Jugend, Sportministerin unter Berlusconi und kandidierte als Bürgermeisterin Roms.
Spätestens mit der nun übersetzten Biographie „Io sono Giorgia“/„Ich bin Giorgia“ aus dem Europa-Verlag sollten diese Verschwörungstheorien ihr Ende finden. Sie zeigt die Römerin noch als Kandidatin, nicht als Ministerpräsidentin. Selbst der Wahlkampf ist damals, im Mai 2021, noch in weiter Ferne – auch wenn die Absicht des Buches als Positionierung klar ist. Der eigentliche Konkurrent heißt damals Matteo Salvini, dessen Lega in den Umfragen noch die stärkste rechte Kraft ist. Wenige Monate nach Veröffentlichung von „Giorgia“ überholen die FdI die Lega.
Meloni weiß, was passiert, wenn der Vater fehlt
Vorab ein Vorbehalt: Obwohl die Meloni-Biographie bereits vier Jahre alt ist, merkt man der Übertragung ins Deutsche die Eile an. An vielen Stellen wäre ein zusätzliches Redigat nötig gewesen. Teilweise sticht durch den Text die Italianità – was in der Muttersprache Melonis funktioniert, wirkt im Deutschen häufig zu umgangssprachlich. Zahlreiche popkulturelle Referenzen wird der deutsche Leser ebensowenig verstehen wie politische Vorgänge. Das gilt auch für die Identität zahlreicher Persönlichkeiten aus dem rechten Spektrum Italiens, die im Heimatland keiner Erwähnung bedürfen, in einer deutschen Ausgabe aber wenigstens eine Fußnote verdient hätten. Außerdem fehlt ein Personenregister.
Eine Biographie muß nicht zwangsläufig den wahren Menschen zeigen. Dafür stehen zahlreiche Bücher über Angela Merkel – ihre eigene Autobiographie inklusive. Sie bleibt trotz ihrer 16jährigen Kanzlerschaft die enigmatische Gestalt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das gilt insbesondere für ihre DDR-Vergangenheit, die je nach Autor und politischer Strömung unterschiedlich bewertet wird.
Meloni nutzt ihre Offenheit mit der eigenen Vergangenheit dagegen strategisch. Die Offenlegung ihrer Kinder- und Jugendzeit bildet das Fundament eines politischen Programms. Sie wächst mit ihrer Schwester und ihrer Mutter auf, weil der (kommunistische) Vater sie früh verläßt – und kann deshalb als Verfechterin der traditionellen Familie gelten, weil sie weiß, was es bedeutet, wenn einem Kind der Vater fehlt. Alternative Familienmodelle? Giorgia hat am eigenen Leib erfahren, was das bedeutet.

Es gibt Parallele zur „Hillbilly-Elegie“ von JD Vance
Sie muß sich von niemandem die Vorteile erklären lassen, die etwa gleichgeschlechtliche Verbindungen bringen. Ein Kind braucht Vater und Mutter. Daß ihre Mutter sie zuerst abtreiben wollte, weil sie in einer finanziellen Notlage war und auch die Freundinnen sie dazu drängten, steht bereits im Anfangskapitel. Die heutige Premierministerin Italiens hätte es also gar nicht gegeben, ginge es nach der Abtreibungslobby. Wie viele andere Staatsleute, Künstler und Wissenschaftler sind womöglich nie geboren worden?
Melonis Nacktheit und ihr „Menscheln“ sollten demnach nicht als Klatsch mißdeutet werden. Als Frau verachtet sie Gleichstellung, Opferkult und „Empowerment“. Nachdem sie mit ihrer Schwester im Kinderzimmer gezündelt hat, brennt die Wohnung aus. Die Frauentrias steht auf der Straße. Man schlägt sich durch. Dafür braucht es keinen Staat, keine Sozialprogramme und keine überfürsorglichen linken Sozialarbeiter. Wer der Meinung ist, daß Frauen allein nicht zurechtkommen, bevormundet sie.
Ihr Lebensnarrativ ist weniger das einer „Giorgia from the blocks“, sondern ähnelt eher dem des „Hillbilly“ JD Vance, dessen Überzeugungen sich in einer Vita zwischen Licht und Dunkelheit entwickeln – ohne in die Falle zu tappen, sich dem Leser anbiedern zu wollen.
Auch die Erben der Faschisten sahen sich nicht als Staatsgegner
Mobbingerfahrungen und Diskriminierung sind Meloni nicht fremd. Das gilt für ihr Übergewichtsproblem als junger Teenager und für ihren Aktivismus bei der Jugendgruppe des MSI. Es sind diese Zeiten, in denen Meloni mit Lederjacke in Roms Arbeiterviertel Garbatella Plakate klebt und für die wenig später reformierte Alleanza Nazionale – die Nachfolgerin des MSI – Wahlkampf macht.
An der Schule sehen die linken Lehrer ihr politisches Engagement mit Argwohn. Meloni weiß, daß sie sich doppelt anstrengen muß, um durchzukommen. In ihrer Abiturprüfung wird sie von den Prüfern drangsaliert. Sie stellen die Mündliche Prüfung von Italienisch auf Deutsch um. Ausgerechnet Thomas Mann, der schon für Muttersprachler eine Herausforderung darstellt, soll mit „Tod in Venedig“ Thema sein. Ein anschließendes ideologisches Verhör bewältigt sie nicht mit Protest oder Rebellion, sondern klarer Konfrontation. Meloni weiß, daß der Gegner mit falschen Karten spielt, aber sie verläßt das Spielfeld nicht, sondern stellt sich der Herausforderung.
Verblüffenderweise liegen dieser „Spiel im System“-Haltung die Wurzeln italienischer rechter Denktraditionen zugrunde. Selbst die Erben des italienischen Faschismus betrachteten sich nicht als Gegner des Staates, wie es etwa die Alte Rechte in Deutschland getan hat. In Italien lebten starke Elemente der Rechten fort: mit einem traditionellen Katholiken wie Giovannino Guareschi als Schriftsteller und journalistischem Sprachrohr, elitären monarchistischen Zirkeln in Süditalien oder den Carabinieri, in deren Reihen viele autoritär Gesinnte dienten. Bereits Mussolini hat sich nicht so sehr als Revolutionär, denn als Renovator gesehen.
Wo Meloni ihre Karriere begann, gab’s keine Denkverbote
In diesem Licht ist auch die EU-Politik Melonis zu sehen: Der Austritt aus der EU, wie ihn etwa die AfD in einer gewissen historisch-ideologischen Tradition der deutschen Rechten, eines fast lutherisch anmutenden „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ in ihr Programm geschrieben hat, ist für Meloni kein gangbarer Weg.
Nachdem sie als dicke Jugendliche von einer Gruppe männlicher Volleyballspieler gehänselt und ausgeschlossen wurde, nimmt sie ab, kehrt zurück – und spielt wie eine Besessene. Aber nicht, um der Gruppe zu entsagen oder sich an der Gruppe zu rächen – sondern um ihr anzugehören und sie anzuführen. Die Revolution findet von oben statt. Nicht von unten.
Daß Meloni ihr Programm jedoch nicht in der rechtsextremen Szene, sondern in der europäischen rechten Denkkultur verortet, macht sie im dritten Kapitel deutlich. Hier findet man eher Scruton, Tolkien, Chesterton und eine Prise Kuehnelt-Leddihn denn überholte Denkmuster. Anders als viele Zeitgenossen hält Meloni am Rechts-Links-Gegensatz fest. Rechts, das ist für sie alles, was Identität bewahrt und schützt: ob als Mutter, als Christin, als Italienerin oder Europäerin. Links, das ist alles, was die Identität zugunsten einer uniformen Masse auflösen will. Rechts, das ist das, was dem Individuum die Freiheit gibt, sich zu entfalten; links dagegen herrscht Bevormundung, Konformismus und Denkverbot.
Das mag nur jene verwundern, die sich nicht mit der Geschichte des rechten Lagers beschäftigt haben – oder den gegenwärtigen Zeitgeist nicht kennen. Melonis Mutter stand dem Neofaschismus nahe, arbeitete jedoch als freigeistige Schriftstellerin. Meloni selbst bewegte sich in ihrer Jugend in einem als rechtsradikal geltenden Umfeld, das mehr Luft zum Atmen bot als die meisten anderen politischen Vereinigungen. In der Jugendgruppe des MSI gab es keine Denkverbote, es war gleichgültig, ob man Gramsci oder Evola las. Auch deshalb ist es heute nicht die politische Linke, sondern die politische Rechte, die die Meinungsfreiheit verteidigt – nicht nur in Italien und Deutschland.