Linke Renegaten werden hierzulande rechts der Mitte meist mit offenen Armen – und Ohren – aufgenommen. Das war schon bei Thilo Sarrazin der Fall oder bei Boris Palmer und ist auch bei Mathias Brodkorb so, dem einstigen SPD-Minister aus Mecklenburg-Vorpommern, der mittlerweile fest zur Equipe des Cicero-Magazins gehört. Solche Frischluftzufuhr wirkt in der Regel gewinnbringend. Denn oft ist in Debatten nicht das „Was“ entscheidend, sondern das „Wer“.
Mit „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat – Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“ hat Brodkorb jedenfalls genau das richtige Buch zur richtigen Zeit herausgebracht. Pointiert und durchaus parteiisch – aber eben nie mit Schaum vor dem Mund – setzt sich der Verfasser mit jenem Phänomen kenntnisreich auseinander, das in der aktuellen Debatte um die AfD samt vermeintlicher „Geheimtreffen“ eine zentrale Rolle spielt.
Die Assoziation mit dem DDR-Regime liegt nahe
Die Form eines solchen Inlandsgeheimdienstes zum präventiven Demokratieschutz ist einmalig in westlichen Industrienationen. Doch laut Brodkorb zahlt Deutschland dafür einen (zu) hohen Preis: den „Hautgout der Zersetzung“. Damit meint der Autor die Wirkung, die der Verfassungsschutz in erster Linie über seine wie ein Pranger wirkende Öffentlichkeitsarbeit erzielt; nämlich „mögliche Verfassungsfeinde gesellschaftlich zu isolieren“. Eine „nachhaltige Beschädigung des öffentlichen Rufes führt zum Verlust des gewohnten menschlichen Umgangs“.
Da die Behörde – und insbesondere ihr derzeitiger Chef Thomas Haldenwang – laut Brodkorb dann noch betont, „auf die tätige denunzierende und ausgrenzende Mitarbeit der ganzen Gesellschaft angewiesen“ zu sein, liege die Assoziation mit finsteren Zeiten des DDR-Regimes auf der Hand, „auch wenn sich die dabei angewandten Methoden von denen der Stasi deutlich unterscheiden dürften“. Erst vor 50 Jahren, unter FDP-Innenminister Werner Maihofer, wurde überhaupt der Begriff „extremistisch“ als für den Verfassungsschutz relevante Größe definiert – in Abgrenzung zum damals eher gebräuchlichen „radikal“.
Es gibt keine Pflicht, verfassungskonforme Überzeugungen zu haben
Radikale politische Aktivitäten seien noch nicht per se verfassungsfeindlich, stellte der Verfassungsschutzbericht damals klar. Nur dann sei etwas im Rechtssinne verfassungsfeindlich, wenn es sich „gegen den Grundbestand unserer freiheitlich rechtsstaatlichen Verfassung richte. Zwei Faktoren müßten dabei zusammenkommen: erstens „tatsächliche Bestrebungen“, also zielgerichtetes und absichtvolles Handeln gegen schutzwürdige Verfassungsgrundsätze und zweitens eine verfassungsfeindliche Ideologie. Wobei der Geheimdienst-Kritiker Brodkorb durchaus das grundsätzliche Dilemma anerkennt, in dem sich die Beamten des Bundesamts befinden: „Daß Verfassungsfeinde ihre Verfassungsfeindlichkeit für gewöhnlich nicht offen bekennen“.
Eine Verfassungstreuepflicht gibt es wiederum nur für Beamte. Eine Pflicht zu verfassungskonformen Überzeugungen besteht bei uns nicht. Daran zu erinnern ist in Zeiten von Demokratiefördergesetz und dem neuen Tatbestand der „Delegitimierung des Staats“ unzweifelhaft ein Verdienst dieser gutbelegten Streitschrift. Grundrechte sind – allen mit Wachsamkeits-Tremolo untermalten Appellen aus den Ministerien von Nancy Faeser (SPD) und Lisa Paus (Grüne) zum Trotz – keine Handlungsanweisungen an die Bürger, sondern „umgekehrt deren Abwehrrechte gegen den Staat“.
Der Volksbegriff und der Verfassungsschutz
Viel Raum in Brodkorbs inhaltlicher Dekonstruktion des Verfassungsschutzes nimmt der Streit um den „Volksbegriff“ ein. Denn der wiederum spielt eine zentrale Rolle sowohl für die Beobachtung der AfD als auch im Fall des an der Ausübung seiner Lehrtätigkeit gehinderten Professors Martin Wagener. Das Grundgesetz, so die offizielle Lesart der Verfassungsschützer und ihrer Juristen, kenne „keine weiteren Kriterien der Zugehörigkeit zum deutschen Volk“ als die Staatsangehörigkeit. Kriterien wie Ethnie oder Abstammung seien laut Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „mit dem Menschenwürdekern des Grundgesetzes unvereinbar“.
Brodkorb hält das für unzutreffend. Im Staatsvolksbegriff des Grundgesetzes werde ein ethnischer Volksbegriff „logisch wie historisch vorausgesetzt“. Zudem weist er darauf hin, daß die Karlsruher Richter im dafür maßgeblichen Urteil gegen die NPD 2017 geschrieben hatten, das Grundgesetz kenne „einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht“. Und von ausschließlich ethnischen Kategorien geht die AfD ja auch überhaupt nicht aus.
Bei anderen angeblich oder tatsächlich verfassungsfeindlichen Äußerungen von Politikern der Partei stellt Brodkorb den seit langem durchgestochenen Gutachten des Verfassungsschutzes jenes gegenüber, das die AfD bereits vor über fünf Jahren beim Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek in Auftrag gegeben hatte. Die zählte seinerzeit wesentlich weniger (nämlich nur elf) Fälle, bei denen „ein Konflikt mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ vorliegt. Autor Brodkorb macht aus seiner Verwunderung darüber keinen Hehl, daß die AfD das Murswiek-Gutachten weggesperrt und noch nicht einmal zu den Verfahrensakten im fortgesetzten Rechtsstreit mit dem Verfassungsschutz eingebracht hat. Mutmaßlich um den zu schonen, der für die meisten der elf Verstöße verantwortlich ist, Thüringens Landesvorsitzenden Björn Höcke.
Das Stigma wirkte links weniger isolierend
Brodkorbs Kritik am Verfassungsschutz spielt sich keineswegs nur vor der Folie des regierungsamtlich ausgerufenen „Kampfs gegen Rechts“ ab. Als Fallbeispiele für das fehlgeleitete Wirken dieser einfluß-, da folgenreichen Institution dienen nicht nur die aktuell dominierende AfD oder das Institut für Staatspolitik in Schellroda. Auch dem Fall des Linkspartei-Politikers und Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelowund der sich über vier Jahrzehnte hinziehenden, am Ende für rechts- und verfassungswidrig erklärten Beobachtung des linken Rechtsanwalts und Aktivisten Rolf Gössner widmet Brodkorb jeweils ein Kapitel. Gössner war dreimal vor Gericht gegen den Verfassungsschutz erfolgreich, für seinen juristischen Kampf brauchte er indes einen langen Atem. Daß man ihn zu Unrecht zum Linksextremisten gestempelt hatte, dafür entschuldigte sich niemand bei dem mittlerweile 75jährigen.
Eines wird durch die Beschreibung seines Falls allerdings deutlich: das Stigma „vom VS beobachtet“ wirkte links nicht so isolierend wie rechts. Gössner wurde ungeachtet des Verdikts Rechtsberater der Grünen-Fraktion in Niedersachsen, prominente Schriftsteller wie Grass, Améry, Kopelew und Rühmkorf oder der PEN-Club setzten sich für den Stigmatisierten ein. Als Gössner dann auch noch zum Mitglied des Bremer Staatsgerichtshofs berufen wurde, trat der Verfassungschutz den Rückzug an.
Man muß kein AfD-Freund sein, um den Verfassungsschutz anzuprangern
Eine behutsame Reform der Behörde, die etwa nach dem Vorbild des Bundesrechnungshofes unabhängiger von parteipolitischen Einflüssen aufzustellen wäre, sei „zwar ein deutlicher Fortschritt, aber inkonsequent“, schlußfolgert Brodkorb am Ende seiner gut 200 Seiten. Und so fordert der Autor dieser ebenso faktenreichen wie flott geschriebenen Streitschrift genau das, was früher zum guten Ton gehörte – in sehr linken Kreisen: den Verfassungsschutz gleich ganz abzuschaffen. Die Bundesrepublik würde dann ihren Sonderweg verlassen und sich jenem Standard angleichen, „der in westlichen Demokratien üblich ist“.
Einen Umkehrschluß läßt Brodkorb freilich nicht zu: den, daß seine Kritik am Verfassungsschutz jedem Beobachtungsobjekt automatisch einen Persilschein ausstellt. Wer das Vorgehen gegen die AfD kritisiert, muß nicht deren Positionen teilen. Von politischer Verharmlosung will der ehemalige SPD-Landesminister und Gründer der Plattform „Endstation Rechts“ nichts wissen. Im Gegenteil. Der Verfassungsschutz berge gerade die Gefahr, den Bürger zu entmündigen. Indem er zur „Auslagerung“ des politischen Diskurses beiträgt und so die „politische Resilienz der Demokratie“ beschädige. Denn er verhindere die „Ausbildung jener argumentativen Kraft, die man bräuchte, um Menschen von der Wahl und Unterstützung für gefährlich gehaltener Gruppierungen abzuhalten“. Das, so Brodkorb, sei vielleicht „sogar der gewichtigste Grund, auf seine Dienste künftig besser zu verzichten“.