Auch Hansi Flick (publizistisch unterstützt von Jonathan Sierck) wollte ein Buch schreiben. Schlimmer noch: er hat es getan. Um den Umfang auf 220 Seiten zu strecken, hat man ihm Wohlgesonnene um Elogen gebeten (Rummenigge, Gerland, Neuer, Alaba, Bierhoff, Hans-Dieter Hermann, Robert Dekeyser, Ehefrau Silke und der unvermeidliche Christian Streich), die so zuckrig ausfallen wie übersüßte Buttercremetorte. Am Ende kapituliert jeder Zweifel vor der Einsicht, daß Europas „Trainer des Jahres 2020“ zugleich der netteste, kommunikativste, selbstkritischste, kompetenteste und bescheidenste Fußballehrer ever ist. Eine Mischung aus begnadetem Verhaltenstherapeuten und Mutter Teresa.
In seinem harmoniebedachten Rundblick sind alle beim DFB oder im Bayern-Vorstand top, der Geldgier verdächtigte Spieler auch nur Menschen. Medienhyänen im Kontext von Hochkommerzialisierung und -politisierung sind halb so schlimm, da man ohnehin der Offizialmoral folgt: gegen Katar, für Bischof Tutu oder Lauterbach, bei dem Flick sich für eine Replik sogar entschuldigte. Schicksalsschläge oder Enttäuschungen lehren vor allem wieder aufzustehen und besser zu werden. Atmosphärische Trübungen vor seinem Abschied von den Bayern werden – Bücherkäufern zum Tort – mit diplomatischen Floskeln verkleistert.
„Ich glaube uneingeschränkt an das Gute im Menschen“
Selbst Corona oder der Ukraine-Krieg beeinträchtigen die Sozialidylle nicht: „Ich glaube uneingeschränkt an das Gute im Menschen.“ In Krisenzeiten wüchsen Abertausende per „Nächstenliebe über sich hinaus“, „rührende“ Solidaritätsvorbilder. Ein „verstecktes Geschenk der Pandemie“ bestehe in der Einsicht, „wieviel Freude eigentlich das Geben und Nehmen“ macht. Der medial gemobbte Kimmich sah es wohl anders. Doch dergleichen hat in Hansis schönster aller Fußballwelten keinen Platz. Erschöpft sich das DFB-Leitbild vom mündigen, politisch engagierten Kicker doch in nachgeplapperten Globalagenden.
Eine Botschaft wiederholt Flick unter Zitierung diverser „Wissenschaftskoryphäen“ mantrahaft: Alles wird gut, wenn man, vom Vorstand über die Spieler bis zum Zeugwart, jeden mit ins Boot nimmt. Mitverantwortung, ständiges „Feedback“, flache Hierarchien bei selbstbewußtem Nachwuchs, ehrlich und „kreativ“ sein, viel Spaß vermitteln, positiv denken. Fraglos lebt Flick das mehr als andere, und seine steile Leistungsbilanz bei Bayern spricht für ihn. Doch resultiert sie nicht vornehmlich daraus, daß er mit der Stärkung Thomas Müllers die alte Hierarchie restituierte, die den Aufstand der Jungen begrenzte?
Lauter Sprechblasen, Kitsch und Dozentenslogans
Natürlich liest man ein solches Buch nicht wie Belletristik. Doch bei soviel Betonung von Authentizität hungert man geradezu nach einem originell formulierten Satz, statt Sprechblasen oder (auch noch lehrprobenartig hervorgehobenen) Dozenten-slogans. Schlagworte zur „Spielphilosophie“ verharren im Banalen, sofern sie nicht durch konkrete Details mit Leben gefüllt werden. Doch kaum zehn Seiten zu Trainings-, Nachwuchsarbeit oder Regelreformen tun das. Deutlich werden immerhin der immense Aufwand und gigantische Apparat von Scouting-Experten, Spielanalysten, Ernährungs- und Mediaberatern, um das heute oft praktizierte „Rasenschach“ zu inszenieren.
Dazwischen Lebensweisheiten, wattiert in Kitsch (Hansi lacht, weint, mag Kinder ihrer Wahrheitsliebe willen, dankt Hoffenheim selbst bei Entlassung oder der Regierung dafür, daß man in der Pandemie überhaupt spielen durfte). Unter den verkündeten sozialen Werten sind zweifellos echte wie die häufig vergessene Forderung, „mit Anstand“ zu verlieren. Aufgesetzt wirkt dagegen der missionarische Anspruch, besonders bei periodischen universalen Fußballfesten, alle „glücklich“ zu machen – selbst die Fans der jeweils Unterlegenen?
Philanthropisches Framing für die WM
Den Text durchzieht ein Grundwiderspruch. Wenn anderes im Leben mehr zählt als Erfolg, warum das lebenslange Anstacheln von brennendem Ehrgeiz? Wer Gelassenheit und Sinn für Wichtigeres predigt, kann der gleichzeitig verkünden, man dürfe sich nie mit Erreichtem zufriedengeben? Drapieren all diese Ausflüge ins Allgemeinmenschliche also wiederum nur Erfolgstechniken, um das letzte Quentchen Leistung aus einem Team herauszupressen? Im Haifischbecken „Profisport“ etwa durch das leicht bigotte Lob von Meditation oder der Bantu-Lehre Ubuntu („Das Wir ist wichtiger als das Ich“) als „reinste Form der Menschlichkeit“.
Sei’s drum. Mit solchem philanthropischen Framing geht’s zur WM. Vielleicht verhilft dieser Wertemix unserm Hans ja zum Titel-Glück. Zumindest sein Missionsoptimismus profitierte davon. Denn Sieger hatten schon immer recht.
Hansi Flick, Jonathan Sierck: Im Moment. Über Erfolg, die Schönheit des Spiels und was im Leben wirklich zählt. Riva Verlag, München 2022, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro
JF 47/22