„Der Hölderlin isch et verruckt gwä!“ Das berüchtigte Graffito am Tübinger Turm dürfte im kommenden Jahr zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins eine Renaissance erleben, nicht zuletzt durch die bereits annoncierte Biographie Rüdiger Safranskis.
Anders als dessen Bücher, die auf Jubiläen hin konzipiert sind, wirkt die – im wahrsten Wortsinn – poetische Zustiftung des Dichters und Künstlers Jürgen K. Hultenreich. Es ist nicht übertrieben, zitierte man hier Hölderlins geflügeltes Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“
Fesselt doch diese Biographie nicht nur durch die so kenntnisreich wie lakonisch eingebetteten historischen Parallelitäten, für die beispielhaft die Einleitung stehen mag: „Als Johann Christian Friedrich Hölderlin am 20. März 1770 in dem lieblichen Lauffen am Neckar als erstes Kind seiner Eltern zur Welt kommt, packt Goethe sein Gepäck für die Reise nach Straßburg. Dort wird er Friederike Brion – das Gretchen im ‘Faust’ – und Johann Gottfried Herder kennenlernen.“
Vielschichtiges Bild
Ebenso faszinierend sind zahllose Zitate Schillers, Goethes, Hegels, Schellings und anderer, die hier organisch eingewebt sind. Vor allem bestechen die luziden Schlußfolgerungen Hultenreichs, welche den glänzenden Aphoristiker verraten, als der er zuletzt mit dem Band „Ziele stehen im Weg“ hervortrat.
Der Biographietitel bezieht sich auf die Verse „Hälfte des Lebens“ von 1789, bekannt auch durch die Vertonung Wolf Biermanns. Dabei stehen diese symbolisch für den Mythos vom normalen, den Wahnsinn nur vortäuschenden Dichter, da das Gedicht erst 1805 erschien. Indes verbrachte der Dichter dann tatsächlich die Hälfte seines Lebens – bis zu seinem Tod 1843 – im „betreuten Wohnen“ des warmherzigen Schreinermeisters Ernst Friedrich Zimmer.
Hultenreich zeichnet ein vielschichtiges Bild des hypersensiblen, oft als sanft geschilderten Poeten, dessen impulsiver Charakterzug vielmehr rechthaberisch-tobsüchtig war. Dabei revidiert der Autor das etwa von Peter Härtling (im Verbund mit der DDR-Rezeptionsgeschichte) produzierte Bild vom verhinderten Revoluzzer.
In China gilt er als populärer deutscher Dichter
Tatsächlich erscheint Hölderlins „grenzenlose Selbstliebe“ – sofern sich jeder selbst der Nächste sei – hier unversehens als die höchste Form der Nächstenliebe. Gemäß Hultenreichs Einschätzung, daß das „ungesellige, misanthropische Naturell“ Hölderlins diesem das Gefühl gab, „eine für sich allein existierende Republik, ein unabhängiger Staat geworden zu sein, deren Bewacher und Diplomat er gleichzeitig ist, um die Grenzen seiner Identität zu schützen“, müßte Hölderlin heute – erschiene es nicht als Travestie – als erster „Reichsbürger“ gelten, zumal er zum Zeitpunkt der Reichsauflösung in Regensburg, der Stadt der Reichstage, weilte.
Kurioserweise beginnt das Mysterium bereits mit der Etymologie. So stehe der Name „Hölderlin“ für „kleiner Holunder“: eine den Germanen heilige Pflanze, deren Vernichten „streng bestraft“ wurde. Ein alemannischer Bauernspruch etwa lautete: „Vor einem Holunder muß man den Hut abnehmen.“
Den beherzigt auch das Reich der Mitte, gilt doch Hölderlin in der China durch seine Naturbeschreibungen inzwischen als populärster deutscher Dichter. Die überzeitliche Wirkung seiner Dichtung zeigt sich nicht nur im vorweggenommenen Expressionismus oder in dem aus dem Altgriechischen übertragenen Skolion, dem nachmaligen Schwur Stauffenbergs und seiner Männer vor dem Attentat auf Hitler. Vor allem gilt die Hoffnung aus der Hymne „Patmos“: „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.“
——————
> Eine Lesung des Autors findet auf der Leipziger Buchmesse am 23. März 2019, 12.30 Uhr, Halle 5, Stand H 309 statt.