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Ukraine-Debatte: „Putin versteht den Begriff ‘Nationalstaat’ überhaupt nicht“

Ukraine-Debatte: „Putin versteht den Begriff ‘Nationalstaat’ überhaupt nicht“

Ukraine-Debatte: „Putin versteht den Begriff ‘Nationalstaat’ überhaupt nicht“

Historiker Egon Flaig, JF-Chefredakteur Dieter Stein und Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel diskutieren in Berlin. Putin und die Ukraine. Was sind die Ursachen des Krieges und wohin steuert er?
Historiker Egon Flaig, JF-Chefredakteur Dieter Stein und Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel diskutieren in Berlin. Putin und die Ukraine. Was sind die Ursachen des Krieges und wohin steuert er?
Historiker Egon Flaig, JF-Chefredakteur Dieter Stein und Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel (v.l.n.r.): Wohin geht es im Ukrainekrieg? Foto: JF
Ukraine-Debatte
 

„Putin versteht den Begriff ‘Nationalstaat’ überhaupt nicht“

Muß die Ukraine neutral bleiben? Sollten europäische Soldaten zur Friedenssicherung an die russische Grenze? Diesen und weiteren Fragen stellen sich der „Weltwoche“-Herausgeber Roger Köppel und der Historiker Egon Flaig in einer Debatte. Die JUNGE FREIHEIT ist vor Ort.
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Der Krieg in der Ukraine polarisiert die deutsche Gesellschaft – auch das konservative Spektrum. Die Bürger beschäftigt die Frage, in welchem Umfang Waffenlieferungen auch ohne Unterstützung der Vereinigten Staaten gelingen und ob deutsche Soldaten zur Friedenssicherung an der russischen Grenze stehen sollen (JF berichtete). Wie es zum Krieg kommen konnte, wird selten diskutiert, denn der Raum für freie Debatten ist geschrumpft. In so einer Lage ist es bequem, sich mit dem Fakt zu begnügen, daß Putin die Ukraine angegriffen hat.

Doch in der Debatte zwischen dem Historiker Egon Flaig und dem Schweizer Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel wird den unbequemen Fragen zu den Hintergründen des Ukrainekrieges offen und kritisch nachgegangen. Auf Einladung des Staatsrechtlers Ulrich Vosgerau lauschen mehr als 50 interessierte Menschen den beiden Diskutanten in einem Berliner Innenstadtlokal. Damit ist der Saal voll.

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Die durch Vosgerau ermöglichten Debattenrunden haben sich mittlerweile als eine Institution etabliert, so daß auch Prominenz im Publikum sitzt. So zum Beispiel der ehemalige Verteidigungsminister und Staatsrechtler Rupert Scholz (CDU). Er hatte unter anderem in den 1990er Jahren mit Henning Voscherau (SPD) den Vorsitz der Gemeinsamen Verfassungskommission inne. Zudem verfaßte Scholz das für die Deutsche Einheit wegweisende Zehn-Punkte-Programm, erinnert Vosgerau. Auch Schriftsteller wie Friedrich Dieckmann, der bereits in der DDR Bekanntheit erlangte, und Publizist Michael Klonovsky sind zu Gast.

Stein: „Ist die Ukraine eine eigenständige Nation?“

Vor Beginn der Debatte startet Moderator Dieter Stein, Chefredakteur der JUNGEN FREIHEIT, mit einer kurzen Fragerunde, bei der die beiden Diskutanten möglichst nur mit „Ja“ oder „Nein“ antworten sollen. Es herrscht weitgehend Einigkeit, bis Stein fragt: „Ist die Ukraine eine eigenständige Nation?“ Köppel zögert, bis er vorsichtig erwidert, sich kein Urteil anmaßen zu wollen. „Das müssen die Ukrainer beurteilen“, schiebt der Schweizer nach. Dagegen antwortet Flaig, die Ukraine „wird es in diesem Krieg“.

Auch bei der Frage, ob sich europäische Staaten mit sogenannten Friedenstruppen beteiligen sollten, sind sich Flaig und Köppel uneinig. Der Historiker befürwortet einen friedenssichernden Einsatz von Soldaten aus den europäischen Ländern, der Journalist nicht. Die grundlegenden Positionen sind gesetzt.

Flaig: „Putin versteht den Begriff ‘Nationalstaat’ überhaupt nicht“

Flaig stellt in seinem Eröffnungsplädoyer klar: „Rußland war niemals ein Nationalstaat.“ Er begründet seine These mit der Geschichte des Landes seit Peter dem Großen. Demnach beziehen sich der russische Präsident Wladimir Putin und die politische Elite hinter ihm auf diese imperiale Tradition. „Putin versteht den Begriff ‘Nationalstaat’ überhaupt nicht“, führt der Historiker aus.

Köppel distanziert sich anfangs von imperialistisch agierenden Ländern. Auch er würde „einem Staat wie Rußland alles zutrauen“. Bereits die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ist für ihn als Eidgenossen „viel zu autokratisch“, sagt der 60jährige und schmunzelt.

Köppel: „Das ist die Raubtierpolitik der Großmächte“

Für den Weltwoche-Herausgeber ist die für den Ukrainekrieg notwendige Voraussetzung zunächst die Nato-Osterweiterung gewesen. „Klar, Rußland ist ein Aggressor. Aber die Nato, die Vereinigten Staaten von Amerika sind auch ein Aggressor in dieser ganzen Angelegenheit“, sagt Köppel. Da der Krieg in der Ukraine schon seit 2014 im Osten des Landes tobt, sei die Ukraine selbst auch ein Aggressor.

Die Reaktion Rußlands auf die Nato-Osterweiterung müsse so eingeordnet werden wie das Verhalten der USA in der Kuba-Krise, argumentiert Köppel. Auch damals galt schon das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wenn es also nur danach ginge, hätte Kuba freilich das Recht gehabt, sowjetische Raketen auf eigenem Territorium zu stationieren. Doch die Vereinigten Staaten akzeptierten dies genauso wenig wie nun Rußland die Nato vor der eigenen Haustür toleriert. „Das ist die Raubtierpolitik der Großmächte, die in Revieren denkt“, moniert Köppel.

Auch der Historiker sieht Fehler bei der Ukraine

Flaig stimmt einigen Argumenten des Schweizers zu. Allerdings liegt für ihn der „Sündenfall“ nicht in der Nato-Osterweiterung, sondern vor allem in der Einmischung in den Kosovokrieg. Nach der Invasion der Türkei auf Zypern war der Kosovokrieg der zweite Konflikt auf europäischem Boden, der nach dem Zweiten Weltkrieg „Grenzen verschoben hat“, sagt Flaig.

Seiner Meinung nach hat die ukrainische Regierung „schwerste Fehler“ im Vorfeld des Einmarschs Rußlands 2022 begangen. Doch stellte der Historiker innerpolitische Konflikte in den Vordergrund. Sowohl der Sprachen- als auch der Kirchenstreit innerhalb der Ukraine sind aus Sicht des emeritierten Professors Probleme, die zum Konflikt beitragen und bislang nicht gelöst sind.

Was wäre die Alternative zur Nato-Osterweiterung gewesen?

„Ich teile das weitestgehend – auch die Beurteilung des Kosovokonflikts“, lenkt Köppel ein. Doch was wäre die Alternative zur Nato-Osterweiterung gewesen? Und wie sieht eine Lösung des jetzigen Krieges aus? Der Journalist betont, wie für Rußland bei der Nato-Osterweiterung „die roteste aller roten Linien“ erreicht war. Dies vom Westen ins Spiel gebracht zu haben, sei ein Fehler gewesen. Andere Länder wie Polen oder baltische Staaten habe Putin in der Nato noch akzeptieren können.

Auf mehrfache Nachfrage meinte Köppel schließlich, die Nato-Osterweiterung stelle grundsätzlich kein Problem dar. Länder wie Polen, Ungarn oder die baltischen Staaten hätten auch ein berechtigtes Interesse gehabt, selbstbestimmt aus dem Einflußbereich Rußlands auszutreten. Bei der Ukraine sei das jedoch anders.

Köppels Lösung: die russischen Interessen ernst nehmen. „Man kann diesen Frieden nur mit Rußland, unter Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen, zustande kriegen – nicht gegen Rußland.“ So sehr die Kritik am Einmarsch in die Ukraine berechtigt sei, gehe es vorrangig um Sicherheit. „Sicherstellen, daß die Ukraine nicht in die Nato kommt – neutraler Status“, sagt Köppel. Eine weitere Friedensbedingung sei, keine westlichen Truppen in der Ukraine zu stationieren, die eine Bedrohung für Rußland darstellen könnten.

Zudem folge aus dem Krieg die Konsequenz, daß die durch Rußland eroberten ukrainischen Gebiete nicht zurückgegeben werden. Zwar besteht laut Köppel durchaus das Risiko, die Russen könnten lügen und in Wirklichkeit noch mehr erobern wollen. Aber die Realität sehe zurzeit so aus: „Sie gewinnen einfach militärisch.“ Die Alternative wäre Köppel zufolge eine „Eskalationsgefahr mit einer Atommacht“, weswegen er nicht bereit wäre, „die Waffe in die Hand zu nehmen“.

Die Sicherheitsinteressen Rußlands können sich weiter nach Westen verschieben

Sich lediglich dem Terminus der russischen Sicherheitsinteressen zu unterwerfen, berge „Schwierigkeiten“, kontert Flaig. „Denn Hegemonialmächte definieren ihre Sicherheitsinteressen je nach der Machtlage anders.“ Verschiebt Rußland also seine Grenze nach Westen, würden sich auch seine Sicherheitsinteressen neu definieren und nicht statisch bleiben. „Die Sicherheitsinteressen Rußlands dürfen nicht das Kriterium sein, entlang dessen die Verhandlung oder die Lösung dieses Krieges erreicht werden kann“, warnt der 76jährige.

Das Problem, einen Frieden von westlicher Seite mit zu ermöglichen, beschreibt Flaig in der „Kakistokratie“ der politischen Klasse, die sich durch „die am denkbar schlechtesten politisch-intellektuell Ausgestatteten“ definiert. Mit diesem Urteil geht Flaig zufolge eine Realitätsferne einher, die einen Konsens in der EU verunmöglicht.

Welche Probleme einem Frieden noch im Wege stehen

„Die EU ist zu nichts fähig politisch“, kritisiert der Historiker. Sie sei ein „Sammelsurium von Staaten unterschiedlichster Interessen und ohne einen Wertekonsens“. Deshalb sei besonders die Nato entscheidend als Verhandlungspartner im Ukrainekrieg.

Köppel wünscht sich mehr Neutralität nach Schweizer Vorbild. „Das ist eben ein Problem, daß nicht alle Länder neutral sein können oder neutral sein wollen.“ Dahingehend sehe es „düster“ aus. „Ich bin aber trotzdem optimistisch“, fügt er an. Köppel hofft auf die Vernunft, die sich am Ende durchsetzen könne. Die jüngsten Wahlen in Europa würden schließlich zeigen, wie die „nicht so brillanten Politiker“ verdrängt werden.

Historiker Egon Flaig, JF-Chefredakteur Dieter Stein und Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel (v.l.n.r.): Wohin geht es im Ukrainekrieg? Foto: JF
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