Es ist nicht zuviel gesagt: Als Ende vergangener Woche Hans-Ulrich Wehler verstarb, ist mit ihm ein weiterer Teil der alten Bundesrepublik gegangen. In seiner gesamten Laufbahn als Historiker und mit seinen zahllosen Äußerungen zu politischen oder gesellschaftlichen Fragen gehörte der frühere Bielefelder Geschichtsprofessor zum prägenden Milieu der alten Republik. Er bestimmte mit, welche Methoden angewandt und welche Fragen überhaupt gestellt wurden, nicht nur im Fach Geschichte.
Seine eigene Prägung erhielt er wie so viele andere dieser Generation bei einem USA-Aufenthalt. Ein Ful-bright-Stipendium unter dem Motto „Experiment in International Living“ brachte ihn für ein ganzes Jahr bei einer Gastfamilie unter. Dort sei natürlich darauf geachtet worden, den „jungen Nazis auf den Zahn zu fühlen“, erinnerte der einstige fanatische Hitlerjunge sich später.
Der 1931 geborene Wehler konnte offenbar überzeugend nachweisen, nicht zu dieser Gruppe zu gehören. Obwohl er sich angesichts der drohenden Rückkehr nach Deutschland schließlich der Kontrolle entzog, untertauchte und nach eigenen Angaben ein halbes Jahr illegal in den Vereinigten Staaten im Untergrund lebte, schadete das seiner Karriere nicht.
Widerwille gegen die Geschichtsschreibung alter Art
Am Ende aufgespürt und abgeschoben, fand er problemlos den Anschluß ans hiesige akademische Leben. Was er in einem Jahr Studium „nur amerikanischer Geschichte“ an Vorurteilen erworben hatte, trug Wehler nun mit Eifer und Erfolg nach Deutschland zurück. Dazu gehörte der Widerwille gegen die Geschichtsschreibung alter Art. Welche Worte zum Beispiel im Rahmen von Außenpolitik früher einmal genau gefallen waren, interessierte die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft auch unter Wehlers Einfluß bald immer weniger.
Es galt das „Primat der Innenpolitik“ und so wurde statt dessen „Sozialgeschichte“ geschrieben. Was die jüngere deutsche Vergangenheit anging, etablierte Wehler an führender Stelle die kuriose Floskel vom deutschen „Sonderweg“ mit, der das Land vom Westen ferngehalten hätte. Schon weil niemand erläutern konnte, was denn ein Normalweg sei, tendierte deren intellektueller Gehalt zwar offenkundig gegen Null, aber das fiel in der alten BRD nicht ins Gewicht. Entscheidend war, daß die einflußreiche, modische Politik- und Zeitgeschichte zuverlässig als Legitimationswissenschaft der herrschenden Verhältnisse funktionierte, will sagen, die Kontrolle der Siegermächte über das Land begründen half.
Wehler warb für die Zementierung der deutschen Teilung
Zu dieser Neuorientierung der Geschichtswissenschaft gehörte denn auch im Fall Wehler die typische Marginalisierung existentieller Menschenrechtsfragen, wenn sie in bezug auf Deutschland aufkamen. Sobald die „kritische“ Geschichtswissenschaft hier kritische Fragen an die Westmächte hätte stellen müssen, schwenkte sie auf Linie und schien stolz auf ihren Pragmatismus zu sein.
Zusammen mit dem Kollegen Golo Mann warb deshalb auch Wehler in den sechziger Jahren in fast frivoler Weise für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Der zweite totale Krieg sei verloren, da sei nichts mehr zu verhandeln, erklärte er, „oder wie die Amerikaner sagten: ‘Cut your losses’.“ So beiläufig wurde Völkermord selten zum Gegenstand einer Börsenfloskel.
Man konnte sich auf Wehler verlassen. In absehbarer Weise meldete er sich in der immer gleichen Tendenz zu Wort, etwa wenn es galt, im Jahr 1981 die gesamtdeutschen Strömungen der Friedensbewegung als friedensgefährdend anzuprangern. Wehler warb statt dessen für die Zementierung der deutschen Teilung und für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Alles andere sei „Sonderweg“.
Aufkündigung des antitotalitären Konsenses
Wenige Jahre darauf fand man ihn auch im „Historikerstreit“ an führender Position auf der erwartbaren Seite im Kampf gegen seine Feindbilder Andreas Hillgruber und Ernst Nolte. Er polemisierte dabei gegen jede objektive Erforschung der Zusammenhänge totalitärer Systeme und gegen den Begriff selbst. Den Gedanken, daß der Bolschewismus dem Nationalsozialismus zeitlich voranging und ihn mit verursacht haben könnte, wollte Wehler nicht dulden.
Dabei war erneut zu beobachten, wie er ebenso wie sein Mitkämpfer Jürgen Habermas die „westlichen Werte“ über Bord warf, sobald sie die eigene Argumentation störten. Keiner der „Historikerstreiter“ dieser Fraktion konnte sich auch nur die leiseste Distanzierung von stalinistischen Verbrechen abringen. Statt dessen wurde im Historikerstreit der antitotalitäre Konsens gekündigt, der die Ablehnung linksextremistischer Diktaturen bis dahin eingeschlossen hatte.
Wieviel von dieser Position in den kommenden Jahren bleiben wird, muß sich noch erweisen. Trotz der intellektuellen Dürftigkeit von Wehlers Bielefelder Schule und der gegen deren Widerstand schließlich doch erfolgten deutschen Einheit hat sich bis heute jedenfalls erstaunlich viel von seiner Ideologie in die neue Republik herüberretten können. Wehler ist gegangen. Er ging als Umstrittener, aber nicht als Überwundener.
JF 29/14