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Protestkultur in Frankreich: Wenn die unten nicht mehr wollen

Protestkultur in Frankreich: Wenn die unten nicht mehr wollen

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Protestkultur in Frankreich
 

Wenn die unten nicht mehr wollen

Die Lust der Gallier am Bürgerkrieg war bereits Julius Cäsar aufgefallen. Die Franzosen sind der gallischen Tradition treu geblieben: kaum eine Epoche ihrer Geschichte, in der sie sich nicht gegenseitig angefeindet und bekämpft hätten. Mit den Massenprotesten gegen die Homo-Ehe könnte erstmals seit 30 Jahren wieder eine kritische Masse erreicht werden.
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Massendemonstration in Paris: Die kritische Masse ist bald überschritten Foto: JF

Die Lust der Gallier am Bürgerkrieg war bereits Julius Cäsar aufgefallen. Die Franzosen sind der gallischen Tradition treu geblieben: kaum eine Epoche ihrer Geschichte, in der sie sich nicht gegenseitig angefeindet und bekämpft hätten. Seit jeher pflegen sie zudem eine Streik- und Protestkultur. Wer als Tourist nach Paris kommt, wird sehr bald die allgegenwärtigen Streiks bemerken: Pflegepersonal, Fernfahrer, Taxifahrer, Museumswärter, Eisenbahn- und Flughafenpersonal … In Frankreich werden soziale Konflikte selten durch Dialog und gegenseitige Verständigung gelöst. Lieber wird demonstriert und auf die Straße gegangen.

Diese Mißstimmung führt in regelmäßigen Abständen zu Ausbrüchen von kurzer Dauer und kathartischer Funktion: in den Revolutionstagen von 1830 und 1848, der Commune von 1871, den antiparlamentarischen Protesten im Februar 1934, der Algerienkrise im Mai 1958, die zum Zusammenbruch der Vierten Republik und der Rückkehr de Gaulles an die Macht führte, den Studentenprotesten im Mai 1968.

Die größten Demonstrationen seit 30 Jahren

In den vergangenen Wochen waren es die Pläne der Regierung zur Legalisierung der Homo-Ehe, an denen sich die leidenschaftlichen Proteste entzündeten. Sehr schnell rückten Fortpflanzungsfragen (die Notwendigkeit von „Leihmüttern“ und „medizinisch unterstützter Zeugung“ für Homosexuelle) in den Mittelpunkt der Debatte im Rahmen eines gesellschaftlichen Klimas, das von der Einführung der Gender-Ideologie ins schulische Lehrprogramm geprägt war. Den Gegnern des Regierungsprojekts „Ehe für alle“ ist es gelungen, beeindruckende Menschenmassen zu mobilisieren: Vor einigen Wochen demonstrierten über eine Million Menschen in unmittelbare Nähe der Champs Elysées unter dem Motto „Jedes Kind hat das Recht auf einen Papa und eine Mama“. Es waren die größten Demonstrationen, die Frankreich seit dreißig Jahren erlebt hat.

Die Weigerung der politischen Verantwortlichen, den Forderungen dieser gewaltigen Bürgerbewegung Gehör zu schenken, die innerhalb weniger Wochen 750.000 Unterstützerunterschriften zu sammeln vermochte, hat zu einer Radikalisierung der Proteste und „heftiger“ Opposition gegen eine mittlerweile vollkommen diskreditierte Regierungspolitik geführt (weniger als ein Jahr nach seinem Amtsantritt hat Präsident  François Hollande Umfragen zufolge eine Zustimmungsrate von lediglich 26 Prozent). Jeden Tag finden nicht nur in den Straßen von Paris, vor dem Senat oder der Nationalversammlung, sondern auch in weiteren französischen Großstädten neue Demonstrationen statt. Obwohl das Gesetz zur Homo-Ehe inzwischen vom Parlament verabschiedet worden ist, wächst die Bewegung weiter nach dem Vorbild der spanischen Indignados („die Empörten“) oder der „Occupy“-Anhänger in den USA.

„Rechtsruck“ der Bevölkerung

Diese Radikalisierung hat manche Kommentatoren bereits bewogen, das Schreckgespenst der 1930er Jahre zu beschwören und hysterische Parallelen zur aktuellen Krise ziehen zu wollen: ein anachronistischer Gedanke, der vor allem propagandistische oder faule Gemüter verführt (wobei es sich häufig um die gleichen handelt).

In Wirklichkeit ist weniger die Radikalisierung als vielmehr der unbestreitbare „Rechtsruck“ der Bevölkerung bemerkenswert. Meinungsumfragen zeigen eindeutige Tendenzen und Zahlen, die allen bisherigen Erwartungen widersprechen: Über 62 Prozent der Franzosen empfinden die Globalisierung als Bedrohung; 71 Prozent glauben, sich im Mittelpunkt der Krise zu befinden; 70 Prozent sind der Meinung, daß es „in Frankreich zu viele Einwanderer gibt“, und fühlen sich im eignen Land als Fremde; 72 Prozent beklagen, daß „nicht genug zur Verteidigung der traditionellen Werte getan wird“, 65 Prozent, daß „die Justiz nicht streng genug mit Verbrechern umgeht“ und die sogenannten weichen Drogen keinesfalls entkriminalisiert werden dürften; 73 Prozent (darunter 57 Prozent Linkswähler) glauben, daß „sich in Frankreich Arbeitskräfte finden lassen, ohne daß mehr Einwanderung notwendig ist“; 74 Prozent (darunter 59 Prozent Anhänger der Sozialistischen Partei) meinen, daß „die muslimische Religion nicht mit den Werten der französischen Gesellschaft zu vereinbaren ist“. Und 87 Prozent wünschen sich einen „echten Staatschef“, der „wieder Ordnung schafft“!

Letzte Hoffnung Auswanderung?

Frankreich wird somit gegenwärtig von einer Grundwelle überrollt, während sich die Wirtschaftskrise täglich verschärft. Sämtliche ökonomischen Warnzeichen stehen auf Rot. Die staatliche Verschuldung liegt bei über 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, pro Tag werden im Durchschnitt weitere tausend Menschen arbeitslos. Noch hat man die Zustände in Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien nicht erreicht, aber Frankreich ist auf dem besten Weg dorthin. Am härtesten trifft es die ärmeren Bevölkerungsschichten. Die Linke hat sie längst im Namen ehrgeiziger „Gesellschaftsreformen“ und einer Politik der Einwanderungsförderung preisgegeben, die Rechte im Namen der Finanz- und Marktinteressen – mit dem Ergebnis, daß ehemalige kommunistische Stammwähler mittlerweile zum Front National abgewandert sind.

Viele junge Franzosen sehen ihre einzige Hoffnung in der Auswanderung. Die ältere Generation richtet sich darauf ein, daß die Zukunft noch schlimmer wird als die Gegenwart. In den Medien ist von Politikverdrossenheit und verkrampftem Pessimismus die Rede, ohne daß man sich überhaupt die Frage stellt, ob es sich nicht eher um eine schonungslose Offenbarung der Wirklichkeit handelt. Die Franzosen haben längst das Vertrauen in ihre politische Klasse verloren. Mehr als drei Viertel von ihnen halten Politiker für korrupt. Tatsächlich sind nicht alle Politiker korrupt, aber sie haben sich allesamt unglaubwürdig gemacht durch ihre Teilhabe an einem System, das alles korrumpiert.

Die kritische Masse ist bald erreicht

Die Skandale, die mittlerweile fast zum Alltag gehören, werden nur noch als Symptome jenes Zerfalls wahrgenommen, der mittlerweile sämtliche Bereiche der Gesellschaft befallen hat. Zugleich macht sich eine zunehmende Verbitterung bemerkbar, die früher oder später in Wut umschlagen kann. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Verzweiflung und Enttäuschung, der Groll und Frust eine „kritische Masse“ erreicht haben wird. Laut Lenin entstehen revolutionäre Situationen bekanntlich „dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“. Allzu lange wird es nicht mehr dauern.

JF 18/13

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