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Wagen für die Ewigkeit

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Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Endlich weiß man, warum es im Berliner Nahverkehr so oft zu Pannen und Verspätungen kommt: Ein geheimnisvolles Ungeheuer treibt im hauptstädtischen U-Bahn-Netz sein Unwesen. Das Monster sieht aus wie ein altertümlicher U-Bahn-Wagen und bewegt sich durch Drehungen seitlich angebrachter Stelzen fort. Nur wenige Eingeweihte wissen um seine Existenz und haben vor allem an den Haltestellen Rathaus Steglitz und Schloßstraße, wo es sich vorzugsweise herumtreiben soll, Plakate angebracht, auf denen von einem geheimen Experiment geraunt und auf eine Internetseite mit weiteren Informationen (www.kronos-projekt.de) verwiesen wird.

Die Homepage begrüßt den Besucher in dicken Frakturlettern auf schwarzem Grund und würde ein wenig an Internet­seiten aus dem rechtsextrem-verschwörungstheoretischen Spektrum erinnern, wäre sie dafür nicht zu professionell und optisch zu ansprechend gestaltet. Und dann geht es los: 1926 habe man ein Experiment zur Überprüfung von Einsteins Relativitätstheorie begonnen, dafür freiwillige Probanden in einen umgebauten U-Bahn-Waggon gesetzt und diesen auf der niemals fertiggestellten Strecke U10 in Betrieb genommen. Er bewege sich nur wenige Millimeter am Tag fort, im Innern aber komme es durch allerlei Vorrichtungen zu einer enormen Verlangsamung des Zeitablaufs, so daß für die Testpersonen bislang nur rund sechs Stunden vergangen seien.

Besonders beunruhigend aber ist, daß man das Experiment allem Anschein nach – die Quellenlage sei spärlich – niemals beendet habe, so daß sich der unheimliche Waggon noch immer, wie auf YouTube zu sehen, durch die verborgenen Tiefen der – nun stark an Fritz Langs Metropolis erinnernden – Hauptstadt schiebe.

Als „wissenschaftlich-technische Grundlage“ wird ein physikalisches Geschwurbel angeboten, nach welchem „die Geschwindigkeit dem quantenphysikalischen Resonanzverhalten des Higgs-Feldes“ durch ein „komplexes Rückkoppelungsverfahren nach dem Phasenverschiebungsindex des Bode-Diagramms“ angepaßt wird, wobei sich die „entzerrte Geschwindigkeit“ durch eine „Verzögerungs-Entkoppelung“ um den „Faktor 0,000034“ verändert, „um eine Resonanzkatastrophe zu vermeiden“.

So geht es weiter, es tritt eine Veränderung der „Lagrange-Dichte“ und ein „Bosonen-stabilisiertes Flatterverhalten“ ein sowie noch manches andere; jedenfalls läuft die Zeit für die Probanden so langsam ab, daß in ihrer Zeit-Zelle in der „Entschleunigungsbahn Steglitz“ nur sechs Stunden vergangen wären, wenn sie heute aus ihrer Zeitmaschine stiegen. Leider könne der Wagen aber aus irgendwelchen schwurbeligen Gründen nicht mehr geortet werden; er sei in einer anderen Raum-Zeit-Dimension verschwunden. Seine Insassen müssen sich also noch bis auf weiteres am „Original Wilmersdorfer Kümmel“ delektieren, der ihnen aus gesundheitlichen Gründen mitgegeben wurde, da Alkoholgenuß die „pi-mesonische Belastung“ der Leber im „Kronos-Gerät“ vermindere.

Spätestens hier sowie an den sinnigen Namen der „beteiligten Wissenschaftler“ („Dr. Thanatus“, „Hein Senzmann“ usw.) sollte auch der physikalisch weniger bewanderte Leser merken, daß es sich bei dem Kronos-Projekt um eine Kunst-Performance handelt, bei der aus Zwanziger-Jahre-Stummfilmästhetik und Anleihen aus Schauerroman und Science-fiction-Story eine Wissenschafts-Grusel-Satire zusammengemixt wurde, deren leicht beklemmender Charakter durch fein eingestreuten Humor aufgelockert wird.

Entsprechend führen die Links dann auch in die Kunstszene, nämlich zur Neuen Gesellschaft für Bildende Künste e.V. (NGBK), mit deren Förderung Roland Boden im Rahmen eines Projekts „U10 – Von hier aus ins Imaginäre und zurück“ seine „Recherchen“ betrieben habe.

Physik-Experiment entpuppt sich als Kunstprojekt

Betrachtet man die NGBK näher, findet man sich auf wohlvertrautem Boden wieder: Seit 1969 befaßt sich der von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie finanzierte „andere Kunstverein“ mit der „Aufarbeitung des Faschismus“, „Positionen gegen Rassismus“ und „Gender-Fragestellungen“ – das Übliche eben. Eigentlich schade. – Immerhin bleibt ein Trost, wenn man das nächste Mal in Berlin auf einen verspäteten Zug wartet: Man könnte ja auch in der „Entschleunigungsbahn“ sitzen. Und dann würde es richtig lange dauern.

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