Die gegenwärtige Krise bedeutet nicht das Ende der Europäischen Union, wohl noch nicht einmal das formale Ende des Euro. Dennoch haben die Ereignisse einen finalen Charakter, weil sie den Kern des Projekts herausschälen.
Europa, mit dem Enthusiasten eine Fülle historischer und geistig-kultureller Assoziationen, die Bilder reich gegliederter Lebenswelten und eine schmerzliche Liebe verbinden, ist auf den „Euro-Raum“ beziehungsweise auf „Brüssel“ geschrumpft, wo überforderte Finanztechnokraten die Herrschaft an sich gerissen haben. Frei nach Karl Marx: Die Eurokratie, wo sie zur Herrschaft kommt, strebt nach Nivellierung und Normierung aller nationalen und regionalen Unterschiede, Feinheiten, Rücksichtnahmen.
Sie duldet zwischen den Menschen kein anderes Band als das der bürokratischen Vorschrift und der inhaltsleeren Demokratie- und verstiegenen Menschenrechtsrhetorik. Sie ertränkt „die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung“. Im übrigen geben die internationalen Finanzmärkte den Takt und das Vokabular vor. Und noch eines: Ein zentrales Element dieser Fehlkonstruktion ist die unerschütterliche Rolle Deutschlands als Zahlmeister.
Prestigeträchtige Schweinemastanlage
Alles andere, von der Beschwörung Karls des Großen bis zu Beethovens „Ode an die Freude“, ist bloß Alibi statt geistige Substanz, hübsch wirkendes Dekor, auf das man, wenn es ernst wird, leicht verzichtet. Gern hatte man glauben wollen, daß daraus die Inspiration für einen europäischen Bund freier Völker entstanden war, wie auch aus den sicht- und unsichtbaren Verbindungen, die zwischen dem Pariser Louvre, den Uffizien in Florenz, dem Prado in Madrid und der Dresdener Gemäldegalerie bestehen.
Wer in Londons Westminster Abbey voller Ehrfurcht die Artefakte britischer Geschichte besichtigt, steht irgendwann vor der Grabplatte, unter welcher der Komponist Georg Friedrich Händel ruht, den die Engländer als einen der Ihren verehren. Als Deutscher denkt man ohne Hochmut, sondern mit Rührung: Der da liegt, kam aber aus Halle an der Saale!
Statt dessen wird das malerische, wie von Cézanne hingetupfte Dorf in Südfrankreich zum Standort einer sinnlosen, aber prestigeträchtigen Schweinemastanlage, finanziert aus Brüsseler Subventionstöpfen. Der Brunnen vor dem Tore wird zugeschüttet und der Lindenbaum abgeholzt, weil der Platz für den subventionierten Windpark benötigt wird.
Zugegeben, das sind sentimentale Reminiszenzen, was mehr als nur einen Grund hat. Wir leben im Zeitalter der Massendemokratie, in der die Ansprüche und das Niveau der breiten Massen eine nie gekannte Geltung beanspruchen. Dieser Geltungsanspruch drückt sich in der Omnipräsenz der Massenkultur aus, die auf grenzüberschreitende Nivellierung hinausläuft. Das wiederum führt dazu, daß man nichts über die mentalen Prägungen und Unterschiede weiß, die untergründig fortwirken. >>
Der französische Filmregisseur Claude Autant-Lara, der unter anderem den Klassiker „Rot und Schwarz“ mit Gerard Philippe drehte, sprach 1988 vor der französische Akademie der Schönen Künste von seiner „kleinen – heute anachronistischen – Schwäche, Julien Sorel einem James Dean vorzuziehen (…) und Lucien Leuwen einem Rambo“. (Womit nichts gegen James Dean gesagt sein soll.) In der Rede, die mit einem resignativen „Das Boot sinkt“ endet, verweist er auf einen zweiten Grund für die Entwicklung, der viel weniger naturhaft ist, nämlich auf eine Kulturinvasion, „mit der verglichen jeder Einmarsch des Militärs eine Operette ist. Denn die militärischen Besatzer ziehen sich früher oder später wieder dorthin zurück, wo sie herkommen; die kulturelle Niederlage bedeutet ungleich ernstere Verwüstung, ungleich tiefere, schlimmere Schäden. Und sie ist dauerhafter, schwerer zu überwinden.“
Diese Invasion ist die Kehrseite des Siegs des angelsächsisch-kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, das gerade über unseren Köpfen zusammenschlägt. In seiner Brüsseler Variante vereint es den entgrenzten Turbokapitalismus; die liberale Menschenrechtsideologie, die keinen Unterschied zwischen Menschen- und Bürgerrechten akzeptiert; den sozialistischen Internationalismus, der die Ebene der Vaterländer für eine Folge falschen Bewußtseins hält und damit die Transferunion ideologisch vorbereitete, und die kulturelle Bewußtlosigkeit.
Der Geburtsfehler der Europäischen Union besteht darin, daß sie nicht als Bündnis zukunftsfroher Staaten begann, sondern als eine Notgemeinschaft von Geschlagenen, die zudem unter Kuratel standen. In zwei Weltkriegen hatten die europäischen Staaten sich gegenseitig zerfleischt und außereuropäische Mächte eingeladen, sie dabei zu unterstützen – mit dem Ergebnis, daß die USA und die Sowjetunion auf dem Kontinent die Oberhoheit übernahmen.
Angelpunkt nationaler Erzählungen
Für die meisten europäischen Länder bildet der Sieg über das Deutsche Reich und die Befreiung vom Nationalsozialismus nach wie vor den Angelpunkt ihrer nationalen Erzählungen. Hinzu trat die Erfahrung, daß die Befreiung aus eigener Kraft nicht möglich war. Dazu bedurfte es der USA und der Sowjetunion, wobei die Russen sich selber als Unterdrücker kompromittierten, so daß die Fixierung auf die USA total wurde.
Das galt für Westeuropa, das im Kalten Krieg unter dem Schirm der USA überwinterte, aber auch für die osteuropäischen Völker, die ihre Hoffnung auf Erlösung vom sowjetischen Joch auf die USA statt auf Westeu-ropa projizierten. Die daraus entstandene Loyalität dauert bis heute an und läßt sich von Washington immer wieder aktivieren.
In die nationalen Erzählungen der europäischen Länder ist damit zugleich ein latentes Ressentiment gegen Deutschland eingeschrieben, das – wie sich jetzt wieder zeigte – ebenfalls leicht reaktiviert werden kann. Deutschland hatte seine Rolle als Hauptzahler und die EU als Reparationsunion akzeptiert, um wieder internationale Akzeptanz und Handlungsfähig zu erlangen und überhaupt der deutschen Misere zu entkommen.
Damit sicherte es den Zusammenhalt der Union und profilierte sich als ihr Kernland, doch neben der finanziellen Ausstattung hat es ihr keinen politischen oder geistigen Inhalt geben können. Aus dieser politischen Schwäche heraus erlaubte es den Südländern den Beitritt zur Währungsunion und eröffnete damit den Weg zur finanziellen Selbstentleibung – der eigenen und der Europas. Die deutsche Frage, die nie gelöst, nur verdrängt wurde, kehrt nun als europäische zurück.
JF 20/10