Kein anderes Kapitel der Geschichte von Deutschen und Tschechen ist so umfangreich erforscht worden wie die Zerschlagung der ersten tschechoslowakischen Republik. Inzwischen gibt es nicht nur zum Münchner Abkommen 1938, sondern auch zur Politik der Sudetendeutschen Partei (SdP) eine kaum überschaubare Literatur.
Dabei hat sich längst erwiesen, daß die Haltung der SdP lange Zeit keineswegs so einseitig ausgerichtet war, wie es das Resultat von 1938 zu belegen scheint. So wurde bis in die späten dreißiger Jahren zwischen den Parteiflügeln und Führungspersönlichkeiten darum gestritten, in welchem Umfang sich die Politik der SdP an der NSDAP orientieren dürfe und ob einer Autonomie oder einem Anschluß der Vorzug zu geben sei. Unbestritten ist allerdings, daß seit Mitte 1937 eine deutliche Radikalisierung zu erkennen war. Dennoch gelang es der SdP in dieser Zeit, den überwiegenden Teil der Sudentendeutschen enger an sich zu binden. Als Gründe gelten eine generelle Benachteiligung der Deutschen im tschechischen Staat; ein noch aus der Habsburger Monarchie resultierendes Bewußtsein, aber auch eine Faszination für die tatsächlichen und vermeintlichen Leistungen des „Führers“ im Reich.
Dennoch läßt sich nur unzureichend erklären, wie es der SdP innerhalb des kurzen Zeitraumes gelingen konnte, die Mehrzahl der Sudetendeutschen an die Politik der Nationalsozialisten heranzuführen. Unter welchen Voraussetzungen war dies auf kommunaler Ebene überhaupt möglich? Auf diese Frage versucht nun der emeritierte Düsseldorfer Osteuropahistoriker Detlef Brandes in seiner Arbeit „Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938“ eine Antwort zu finden. Dabei untersucht er detailliert die Ereignisse zwischen Januar und Oktober 1938 in einzelnen Dörfern und Kleinstädten Böhmens und Mährens. Kernthese seines Werkes ist die Theorie, daß das Schlüsselereignis im Frühjahr 1938 – die Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich – eine besondere Wirkung auf die Sudetendeutschen entfaltet habe. Denn erst mit diesem Erfolg Hitlers verfestigte sich innerhalb der Volksgeminschaft der Glaube, daß eine Angliederung der Sudetengebiete an das Reich ohne größeren Widerstand der Westmächte durchsetzbar sei.
Tatsächlich belegt Brandes, der in erster Linie Polizeiberichte als Quellenmaterial nutzt, daß der Anschluß Österreichs auch bei denen Sympathien weckte, die bis dahin der SdP und erst recht dem nationalsozialistischen Regime in Berlin kritisch gegenübergestanden hatten. Innerhalb weniger Wochen verbreitete sich – unterstützt von einer aktiven SdP-Propaganda – wie in einem „Rausch“, so Brandes, die Überzeugung, daß die Angliederung des Sudetenlands nur noch eine Frage von kurzer Zeit sei. Schlagartig habe sich das Verhalten gegenüber den tschechischen Behörden deutlich geändert: Nunmehr sei mit direkten Provokationen nicht gespart worden, indem mit „Heil Hitler!“ gegrüßt oder im direkten Kontakt mit der Polizei die Frage gestellt wurde: „Wann kommt er?“
Gleichzeitig belegt Brandes jedoch, daß die Motive für die „freiwillige Gleichschaltung“ auch in der Furcht vor politischen Konsequenzen der neuen Machthaber nach dem Anschluß wegen eines demokratischen Engagements begründet waren, das es durch einen schnellen Eintritt in die SdP praktisch „wiedergutzumachen“ galt. Diese Ängste waren keineswegs unbegründet, hatten doch gerade die Sudetendeutschen nach 1933 Folgen von Hitlers Machtergreifung hautnah erlebt: die Flucht von Sozialdemokraten, bürgerlichen Demokraten, Juden und Kommunisten in die Tschechoslowakei. Schon daher erschien es im Frühjahr 1938 ratsam, sich schnellstens den neuen Bedingungen anzupassen. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch gezielte Androhungen kommunaler Parteiführer der SdP.
Damit befanden sich die Sudetendeutschen in einer doppelten Zwangslage, zumal ihre Aussichten innerhalb des tschechoslowakischen Staates gleichfalls problematisch erschienen. Denn selbst die Deutsche Sozialdemokratische Partei in der Tschechoslowakei mußte zu Beginn des Jahres 1938 einräumen, daß die von der SdP über Jahre hinweg erhobenen Klagen über die gezielte „Tschechisierungspolitik“ des Staates weitestgehend berechtigt waren. Ihr Vorsitzender Wenzel Jaksch warnte jedoch Ministerpräsident Edvard Beneš und Staatspräsident Milan Hodza vergeblich vor den Konsequenzen. Selbst die bescheidenen Zugeständnisse, die man im Frühjahr 1937 den „aktivistischen“, das heißt staatstreuen deutschen Parteien gemacht hatte, wurden von den tschechischen Behörden auf kommunaler Ebene kaum umgesetzt, wie Jaksch Anfang 1938 feststellte.
Brandes bietet einen detaillierten Einblick in die Materie, Urteile und Bewertungen nimmt er dabei eher zurückhaltend vor. Irritierend ist letztlich nur die in der Einleitung dargestellte Kausalkette zwischen dem Verhalten der sudetendeutschen Bevölkerung von 1938 und der Vertreibungspolitik nach 1945, welche aufgrund der aktuellen Forschung zumindest zweifelhaft erscheinen muß.
Detlef Brandes: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938. Oldenbourg-Verlag, München 2008, gebunden, XIV und 399 Seiten, 39,80 Euro