Ich hör das Gras schon wachsen, in das ich beißen werd“, unkte einst mit finsterer Miene der große Wiener Komödiant Johann Nestroy. Das war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als das „Ins-Gras-Beißen“ in allen seinen Formen, vom massenhaften Kindersterben bis zum kriegerischen „Tod fürs Vaterland“ und bis zu uneindämmbaren todeshaltigen Volksseuchen, noch ziemlich öffentlich war. Keiner konnte vor ihm dauerhaft die Augen verschließen, wer es dennoch versuchte, bekam es um so lauter zu „hören“.
Heute ist das bekanntlich nicht mehr so, wird das Sterben hinter Klinikmauern versteckt, und was man darüber zu hören bekommt, ist medial verharmlost, gerinnt zum bloßen Stichwortgeber für „Tatort“-Folgen. Doch jetzt soll sich das ändern. Eine schnöde Film-Serie mit dem Titel „1000 Wege, ins Gras zu beißen“ ist in einigen internationalen Sendern unterwegs, und sie bietet, wenn auch mit einigem Augenzwinkern, „Sterben in Echtzeit“.
Die Kamera, die alles aufnimmt, war angeblich oftmals nur rein zufällig präsent, was sogar glaubhaft wirkt, weil der größte Teil der Streifen von „Events“ handelt, wo Kameras eben von Anfang an dabeizusein haben: Autorennen und andere Sportereignisse, wüste Rockkonzerte, Kampf- oder Folterszenen aus Kriegsgebieten, die der Heeresleitung von raffinierten Feinden entwendet und der Öffentlichkeit zugespielt wurden. Viel von dem, was man in den „1000 Wegen“ sieht, war also ursprünglich gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, oder es entstammt Notsituationen, mit denen die Aufnehmenden nicht gerechnet hatten.
Wahrhaft groteske, gleichsam überzufällige Konstellationen tragen zum Thema bei. Da sind etwa irgendwelche Jungs in Kalifornien, denen ihr „Kultrocker“, der Ex-Frontmann der Gruppe Black Sabbath, vorgeflunkert hat, er habe im Vollrausch einmal statt „weißen Pulvers“ Feuerameisen geschnupft, was doch sehr komische Effekte gehabt habe. Nun wollen die Jungen das Experiment vor von ihnen selbst aufgestellten Kameras wiederholen. Sie inhalieren die Ameisen – und fallen schon nach wenigen Augenblicken in Todeskrampf. Sie zappeln und brüllen und verröcheln, und niemand ist da, der die Kamera abstellt.
Taylor und Conrad hießen jene beiden, denen die Feuerameisen den Rachen zugebissen haben und die so postum zu unfreiwilligen Superstars wurden. Wenn die Sequenz wirklich Realzeit wiedergibt und nicht doch nur raffiniert nachgestellt wurde, dann zeigen Taylor und Conrad zweifelsohne den originellsten Weg, wie man ins Gras beißen kann. Die übrigen Takes fallen dagegen beträchtlich ab. Man sieht Autos in die Luft fliegen wie in irgendeinem läppischen James-Bond-Film, man sieht Alpinisten den Berg hinunterfallen, und man sieht harmlose, zu Tode überraschte Marktbesucher, denen die Splitter nahöstlicher Sprengstoffattentate ins Genick fahren.
Man sieht auch todesstarre, in der Todesstarre oft sehr verschiedene Antlitze von Gestorbenen, aber was man (glücklicherweise) nicht sieht, das ist das eigentliche Ins-Gras-Beißen, also der Augenblick des Hinübertretens vom Leben in den Tod, wie er sich in den Mienen der Sterbenden eigentlich abspiegeln müßte. Oder doch nicht? Es handelt sich, wie gesagt, nur um einen Augenblick, eine Millisekunde allenfalls, den eine normal eingestellte Kamera wahrscheinlich gar nicht dokumentieren kann. Und alle ernsthaften Sterbeforscher haben es aus Pietätsgründen bisher abgelehnt, den Sterbenden eine Hochgeschwindigkeits-Matrix vors brechende Auge zu stellen, welche einen Sekundenvorgang in tausend Bilder aufzulösen erlaubte.
Trotzdem sind, soweit Pankraz zu wissen glaubt, die meisten Sterbeforscher tiefinnerlich davon überzeugt, daß es, erstens, den Augenblick des bewußten Übertritts tatsächlich gibt und daß er sich, zweitens, auch auf dem Gesicht des Menschen abbildet. Seine technische Visualisierung, so die allgemeine Überzeugung, böte hohen Erkenntnisgewinn, gäbe wahrscheinlich darüber Auskunft, ob – bei aller Ausgeliefertheit des Sterbenden – nicht vielleicht doch ein aktives Bewußtseinselement mit im Spiele ist, daß der Sterbende also nicht nur einsieht, daß er jetzt sterben muß, sondern daß er im selben Moment auch sterben will und dies mit einem herzhaften Biß ins Gras ausdrücklich bekräftigt.
Im englischen Original heißt der Film, um den es hier geht, schlicht „1000 Ways to Die“, „1000 Wege zu sterben“. Die deutsche Fassung mit dem Ins-Gras-Beißen fügt der bloßen Benennung des Sachverhalts eine witzige und äußert bedenkbare Nuance hinzu. Das Sterben, jedes Sterben, ist möglicherweise nicht nur ein Erleidensvorgang, sondern auch ein Tatvorgang. Johann Nestroys Versicherung, daß er das Gras schon wachsen hört, in das er einst beißen wird, weist in diese Richtung. Wachsen und Sterben, Hören und Zubeißen sind eins, beides Bestandteile eines Generalvorgangs, in den jedes denkende Wesen (mag sein sogar jedes lebende Wesen) eingesenkt und auf vertrackte Weise auch geborgen ist.
Solche Überlegungen rechtfertigen freilich allenfalls die Marketing-Strategen, die sich den deutschen Titel des Films ausgedacht haben; der Film selbst läßt sich nicht rechtfertigen, weder in ästhetischer noch in moralischer Hinsicht. Er ist ein ruchloses, auf Sensation und billigsten Gruseleffekt erpichtes Machwerk, das man nur verachten kann. Aber nicht nur geile Filmemacher, sondern auch pietätvolle, seriös neugierige Sterbeforscher müssen wohl allmählich die Erfahrung akzeptieren, daß der herzhafte Biß des Sterbenden ins Gras weder abbildbar noch sonst irgendwie verifizierbar ist.
Der Tod bewahrt sein Geheimnis, und der Sterbende wird im Augenblick des Übertritts zum Komplizen des Todes. Auch die Kamera von Taylor und Conrad konnte daran nichts ändern. Sie lieferte nur den Schrecken, nicht das grelle Licht, das jeden Schrecken begleitet und von dem wir nicht wissen, ob von ihm etwas beleuchtet wird und was.