Nun ist er sich selbst klassisch geworden, und mit ihm die ehemals Neue Musik, deren werkgetreuer Sachwalter er stets doch war und ist. Im zeitlichen Umfeld einer Tournee von sieben Aufführungen in fünf Ländern hat Michael Gielen im Oktober 2006 Arnold Schönbergs „Gurrelieder“ in Freiburg und Frankfurt am Main aufgenommen, die Aufnahme wurde ein Jahr später zu seinem 80. Geburtstag veröffentlicht, und im vorigen Jahr erhielt er für sie den Echo-Klassik-Preis in der Kategorie „Dirigent des Jahres“.
Schönbergs hyperromantisches, in seinen Ansprüchen monströses Werk für ein Orchester von an die 150 Musikern, drei vierstimmige Männerchöre und einen achtstimmigen gemischten Chor ist im Repertoire angekommen, die Diskographie auf gut ein Dutzend Aufnahmen von unterschiedlichem Niveau angewachsen. Gielens Einspielung mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dessen Chefdirigent er von 1986 bis 1999 war und dessen Ehrendirigent und ständiger Gastdirigent er heute ist, dem Chor des Bayerischen Rundfunks und dem MDR Rundfunkchor Leipzig zählt zu den notwendigen (SWR Music/Hänssler Classic 93.198).
Michael Gielen sieht sich in der Tradition des Dirigenten-Typus, wie ihn zuerst Mendelssohn und im letzten Jahrhundert Toscanini verkörperten, der den Gesamtzusammenhang eines Werkes durch Straffung und einheitliche Tempi herzustellen sucht. Erst dann nämlich vermögen kleinste Tempoänderungen wirklich zu irritieren, vermag das Ohr agogische Gestaltung sinnvoll nachzuvollziehen. Die Prinzipien der musikalischen Konstruktion, aus denen die unerhörten Ausdrucksgesten der Partitur erwachsen, läßt Gielen deutlich herausarbeiten. Das angeschlagene – und gehaltene! – Grundtempo ist das langsamste, epischste, spannungsvollste der mir bekannten Aufnahmen. Keine Instrumentalstimme wird hinter der Melodiestimme versteckt oder mit Orchesterpedal weggespült, noch in den Tutti meint man jede unverloren und aufgehoben. Orchestergruppen, Chöre und Soli sind klar ausbalanciert; die Aufnahme ist nicht zuletzt ein tontechnisches Meisterstück.
Rückhaltlos passen sich die Gesangsolisten Melanie Diener (Tove), Robert Dean Smith (Waldemar) Yvonne Naef (Waldtaube), Gerhard Siegel (Klaus-Narr) und Ralf Lukas (Bauer) in Gielens Konzeption ein. Fast scheint es, als wolle sich der Dirigent die absolute Kontrolle auch über das Gesungene sichern, als suche er ein irreguläres Surplus zu verhindern, das die individuelle Ausformung durch den Sänger dem Gesungenen zuwachsen lassen könnte.
Als höchst problematisch erweist sich die Besetzung der Rolle des Sprechers im Melodram mit dem Bariton Andreas Schmidt Zwar hält sich Schmidt an den vorgeschriebenen Sprechrhythmus, aber mehr an „Intervallenproportionen“, als daß er sie im Sinne Schönbergs als „Lagenunterschiede“ versteht, so daß seine ausgebildete Sängerstimme nicht das von Schönberg beabsichtigte, sondern eine Art Singvermeidungssprechen hervorbringt, wie man es von weniger guten Operndialogen kennt. Da hat das Melodram nicht jenen erhellenden Wahnwitz, wie er Barbara Sukowa mit den Wiener Philharmonikern unter Claudio Abbado gelungen war.
Dann aber setzen die Chorstimmen zu dem gewaltigen Sonnenhymnus ein, verflechten sich in unerbittlich gehaltenem Grundtempo, bis nach unaufhaltsamer Steigerung des nun homophonen Chorsatzes wieder der Grundakkord steht, mit dem die „Gurrelieder“ in Es begannen, jetzt in C und mit endlich aufgelöster Sext. Man hört hin, fassungslos und überwältigt wie beim ersten Mal. Sein Brief an den Tonmeister, in dem Michael Gielen das Arbeitsergebnis freigegeben hat, beginnt mit dem Ausruf: „Hallelujah!“