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Faszinierend und gruselig zugleich

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„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“
Friedrich Nietzsche: Zarathustras Vorrede (4)

Das 21. Jahrhundert soll das Jahrhundert der Hirnforschung werden, so haben es viele Experten ausgerufen. Die Neuroforschung boomt, entsprechende Sachbücher überschwemmen den Markt. Nie zuvor ist es gelungen, soviel über die Funktionsweise unseres Gehirns herauszufinden wie in den letzten zwanzig Jahren.

Bahnbrechende Erkenntnisse werden erwartet und revolutionäre Anwendungen: Intelligenzverstärker, Neurokosmetika, Gedächtnisverbesserungen. Eingriffe ins Gehirn sowie Geräte fürs Gedankenlesen können schon bald alltäglich sein. Neuroprothesen und Gehirnchips erlauben Handlungen mit Gedankenkraft, Blinde sehen, Taube hören, Lahme gehen … Aber auch Befürchtungen werden laut: Durch die neuen Manipulationsmöglichkeiten werden grundlegende ethische Normen verletzt, unser Selbstbild wird an Bedeutung verlieren. Die schöne neue Neurowelt mit ihrer Vision, Mensch und Maschinen zu verschmelzen, gruselt und fasziniert zugleich.

Der Wissenschaftsautor Rüdiger Vaas versucht in seinem Buch den aktuellen Stand der Forschung zu reflektieren und mit vielen kritischen Fragen zu versehen. Komprimiert und verständlich beschreibt der Bild der Wissenschaft-Redakteur die neurophysiologischen und molekularen Grundlagen des Gehirns sowie die operativen, technischen und chemischen Möglichkeiten, in dieses hochkomplizierte Organ einzugreifen. In kurzen Abschnitten geht es um den Einsatz psychoaktiver Substanzen, um Gedächtnislöschung, Neuronentransplantation und die damit einhergehende Problematik „menschlicher Ersatzteillager“, um Neurochips, Gedankenlesen mittels Magnetresonanztomographie und vieles mehr. Vaas führt die Resultate der Forschung nicht nur anschaulich und ohne Fachjargon vor Augen; er schärft auch unser Bewußtsein für die ethischen Konflikte, ohne ideologisch zu indoktrinieren und dem Leser die eigene Meinung zu suggerieren.

Ein Beispiel aus dem Kapitel „Aufgeputschte Gehirne“: Eine pharmazeutische Welle von „Glücksdrogen“ rollt auf die Menschheit zu, die Depressionen, Panik, Zwänge, Ängste, psychische Schmerzen und extreme Schüchternheit lindern und den Menschen ein normales Leben ermöglichen. Doch Glückssurrogate sind eine heikle Angelegenheit. Vaas: „Trauer, Angst und Leid sind angemessene Reaktionen auf die Fragilitäten des Lebens.“ Neuropharmakologische Korrekturen würden dort verstörend anmuten. Vaas fragt daher nach dem Wert einer „auf- oder eher eingesetzten Fröhlichkeit nur aufgrund einer Pille und also ohne einen Grund im Leben? Warum soll man sich gut fühlen, wenn die Situation gerade oder überhaupt nicht gut ist? Und wie soll man anderen Menschen begegnen, die in Gefühlssurrogaten schwelgen, aber an Echtheit verlieren? Möchte man wirklich einen neurokosmetisch geschönten Partner haben – oder ihn sich selbst schöndopen?“

Oder das Problem der personalen Identität (mit ganz praktischen Auswirkungen auf das Strafrecht): Wird das Gehirn Stück für Stück durch chemische Prothesen ergänzt oder ersetzt, könnte sich auch die Ich-Identität des Menschen ändern. Vaas fragt daher: „Was wird aus der Zuschreibung von Verantwortlichkeit, was aus moralischer Schuld? Könnte ein Neuronenimplantat eines Verbrechens beschuldigt werden, das derjenige begeht, dem die Zellen implantiert wurden?“ Und darf die Persönlichkeit eines Menschen durch Eingriffe in sein Gehirn verändert werden, um die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu verhindern? Werden die Menschen es zulassen, daß man ihnen die Seele austreibt, daß tradierte, religiöse Konzepte von personaler Identität und Willensfreiheit preisgegeben werden sollen?

„Nicht nur die Menschen, auch ihre Götter werden sich mit dem Fortschritt der Hirnforschung ändern“, prophezeiht Vaas. Er geht auch auf die  – von Feuerbach, den Linkshegelianern und Materialisten bis hin zu den neuen Atheisten um Richard Dawkins propagierte – Vorstellung ein, Gott sei nur Einbildung oder gar Opium fürs Volk. Stützt die Neuroforschung diese materialistische Position? Ist Gott nur ein neuronales Gewitter in einem Schläfenlappen? Vaas ist vorsichtig: Ob religiöse Erlebnisse bloße Hirngespinste und psychische Projektionen sind oder aber „Schnappschüsse vom Nirwana“, Botschaften über eine „Hotline zum Himmel“ direkt in ein spezielles „Gottes-Modul“ im Gehirn, das lasse sich neurowissenschaftlich bislang und vermutlich auch prinzipiell nicht entscheiden.

Natürlich sind geistige Vorgänge materiell gebunden – damit hat auch eine idealistische Position keine Schwierigkeiten. Aber sie gibt zu bedenken, daß ein chemisch-biologisches Substrat im Gehirn nicht alles erklären kann. Der katholische Theologe Hans Küng bringt es in seinem Buch „Der Anfang aller Dinge“ so auf den Punkt: „Wer die neuronalen Erregungsmuster betrachtet, sieht keineswegs dem Menschen beim Fühlen, Denken und Wollen zu. Eine Landkarte ist noch keine Landschaft, ein Kartograph kein Geograph, erst recht noch kein Wanderer. Die verschiedenen Farbmarkierungen der betroffenen Gehirnzonen beim Musikhören oder bei einer Bildbetrachtung lassen weder Musik erklingen noch ein reales Bild vor  unseren Augen entstehen.“

Im aktuellen Darwin-Jahr werden diese Debatten weitergeführt werden: Es wird um die klassische Frage gehen, inwieweit Religion und Naturwissenschaft (Evolutionsbiologie) zusammengedacht werden können oder ob sie antithetisch ausgespielt werden müssen.

Rüdiger Vaas: Schöne neue Neuro-Welt. Die Zukunft des Gehirns. Eingriffe, Erklärungen und Ethik. Hirzel Verlag, Stuttgart 2008, broschiert, 168 Seiten, 19,80 Euro

Foto: Rätsel menschliches Gehirn: Dürfen chemische Prothesen im Gehirn die Seele austreiben?

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