Es geschah in der chinesischen Provinz Enshi. Ein Politiker der lokalen Investitionsbehörde betrat ein Badehaus und verlangte von der 21 Jahre alten Angestellten Deng Yujiao diverse „Dienstleistungen“. Als die sich weigerte, riß er ihr die Kleider vom Leib und ohrfeigte sie mit einem dicken Bündel Geldscheine. „Ich werde dich erschlagen mit meinem Geld!“ schrie er.
Stop! Standbild! Ich werde dich erschlagen mit meinem Geld … Was für ein Satz! Nein, das ist keine Szene aus einem Brutalfilm. Das geschah tatsächlich, vor wenigen Wochen, in einem Land, das seit Jahren als vielbewunderter Avantgardist in Sachen Wirtschaftswachstum und globaler Ausbeutung firmiert. Insofern setzt die Situation, inklusive der Beruf des Täters, eine besondere Symbolkraft frei, die weit über die individuelle Mißhandlung hinausweist.
Anmaßung von Allmacht, Demütigung und Raserei, die zum Selbstzweck wird: Mit diesen Vokabeln läßt sich – über China hinaus – die globale Wirtschaft insgesamt charakterisieren. Deren großer Wortfetisch heißt Wachstum – begründet durch einen Willen zur endlosen Steigerung, als Wert absolut gesetzt, ohne Alternative. Nicht mal der Zuwachs an (Ramsch-) Produktion, sondern die Steigerung des Kapitals um seiner selbst willen schafft hier die Befriedigung – egal, auf wessen Kosten. Notfalls gegen Mitmenschen, gegen ganze Nationen, gegen die Natur. Bei stetiger Beschleunigung. Atemlos. Unendliches Wachstum in einer endlichen Welt. Mit begrenzten Rohstoffvorräten. Mit begrenzter Toleranz der Biosphäre.
Der große Knall
Schließlich – vor fast einem Jahr – der große Knall. Aber was jetzt? Weitermachen? In der Hoffnung, daß die Finanzkrise sich beheben und die – durch sie „getollschockte“ (A. Burgess) – Bevölkerung sich noch williger einspannen läßt? Sind Krisen nicht immanenter Bestandteil des Kapitalismus? Und ist die Klimakatastrophe wirklich auf CO2-Verbrauch, Rohdung der Regenwälder zurückzuführen – nicht auf zyklische Klimawechsel, die in der Erdgeschichte schon zahlreich auftraten?
Kurz bevor es knallte, als aber die Luft schon unerträglich nach Pulver roch, hatte Alain de Benoist mit „Demain, la décroissance“ (2007) ein Manifest für einen Neuanfang verfaßt, das die Edition JF jüngst unter dem Titel „Abschied vom Wachstum. Für eine Kultur des Maßhaltens“ in deutscher Übersetzung veröffentlichte. Darin forderte er nicht nur das Ende der Wachstumsreligion, sondern plädiert für eine „Wachstumsrücknahme“.
Das klingt hart. Aber selbst wer bei Ausbeutung der Mitmenschen keine Skrupel kennt, dürfte erschrecken, wenn er hört, daß in den letzten 100 Jahren Vorräte verbraten wurden, zu deren Herstellung die Natur 300 Millionen Jahre benötigte!
Es ist also kaum möglich, die aktuelle Krisensituation zu beheben, ohne die „Logik des Marktes“ zu destruieren. Diese „Logik“ hat sich lange als „unausweichlich“ präsentiert, quasi als Naturgesetz – was eine schnell durchschaubare Lüge war: Benoist führt an, daß Gesellschaften früherer Zeiten nicht Steigerung, sondern Bewahrung des Lebensstandards intendierten, allenfalls dessen Senkung vermeiden wollten. Und wie wenig Notwendigkeit hinter der Logik grenzenloser Steigerung steckt, belegen folgende Tatsachen: Der Großteil des Geldes und des weltweiten Energieverbrauchs beschränkt sich nur auf einen Bruchteil der Weltbevölkerung.
Im Jahr 2003 besaßen die „reichsten fünf Prozent der Erdbewohner 114 Mal soviel wie die ärmsten fünf Prozent. Schlimmer noch, die 225 größten Vermögen der Welt entsprechen dem Gesamtbesitz der ärmsten 47 Prozent, immerhin 2,5 Milliarden Menschen“, so Benoist. Die Behauptung, die Besoldungshöhe sei an der Leistung orientiert, erweist sich als Zynismus oder pathologischer Realitätsverlust.
Und die Energie? „Die entwickelten Staaten verbrauchen ungefähr 80 Prozent der natürlichen Ressourcen und 55 Prozent der Erdenergie, obwohl sie nur 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.“ Solcher Verbrauch hat wenig mit Notwendigkeit, aber sehr viel mit Sucht zu tun. Zeit für den Entzug.
Benoist fordert eine geistige Wendung, einen „anderen Anfang“ (Heidegger) des Denkens. Sonst ist eine Rücknahme des Wachstums unmöglich. Denn bisherige Ökotechnologien gehören in die Kosmetikabteilung, reißen sie doch die durch sie geflickten Wunden an anderer Stelle wieder auf. Nein, die Therapie muß tiefer greifen, sie muß sich gegen „die Religion des Wachstums und den Monotheismus des Marktes“ insgesamt richten.
Der Markt genießt keinen Universalanspruch
Der Einfluß der Wirtschaft auf alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche muß zurückgenommen werden. Der Markt hat durchaus sein Recht und seinen Platz, genießt aber keinen Universalanspruch. Seine Zügelung, die Dekonstruktion seines Primats öffnet zugleich Raum für die Wiederkehr menschlicher Urfragen: nach dem Warum, dem Sinn der menschlichen Existenz. Aus ihr heraus kann menschliches (Zusammen-)Leben neu organisiert werden.
Benoist leitet den neuzeitlichen Willen zur Steigerung aus dem linearen Zeitverständnis ab, das mit Augustinus begann. Aus ihm entsprang die Idee des Fortschritts, das heißt der fortschreitenden Emanzipation des Menschen aus dem Naturzusammenhang. Ebenjene Natur degradiert der Monotheismus zur bloßen Schöpfung, die selbst keinen Anspruch auf Heiligkeit habe. An dieser Stelle wird man dem Autor widersprechen müssen.
Mehr als einmal sind auch heidnische Kulturen – Gesellschaften mit organischem Naturbild also – vom Wachstumsrausch erfaßt worden. Schon die antiken Römer haben gigantische Waldflächen für schwachsinnige Zwecke plattgemacht. Oder die Bewohner der Osterinsel, deren Kultur vermutlich nach der Destruktion eigener Existenzgrundlagen unterging.
Nein, diese Sucht kann jede Gesellschaft befallen, ist weltbildübergreifend. Schon Nietzsche zeigte im 19. Jahrhundert, daß der Willen zur Macht (Steigerung) und die ewige Wiederkunft des Gleichen (antilineare Zeitauffassung) miteinander kompatibel sind. Immerhin führt der Autor aktuelle Beispiele von Umweltbewegungen innerhalb monotheistischer Religionsgemeinschaften an, die ihr Handeln aus dem Glauben ableiten – und relativiert die eigene These damit ein wenig.
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Zudem übersieht Benoist den ungeheuren Furor, den der Mensch gegenüber der Natur empfindet. Die Angst vor deren Allmacht, lebensspendend und tödlich zugleich, trieb ihn zu einer Kultur der Abwehr: gegen die Natur in und außerhalb seiner selbst. Deshalb ist die Gaia-Theorie – wonach die Welt ein großes Lebewesen sei, dem wir alle zugehören – leider eine Spur zu harmonisch. („Wir sind alle eins“, sagte die Schlange, als sie das Kaninchen fraß.) Folglich kann eine Rückbindung an die Natur nur gelingen, wenn der Mensch zugleich einen „zweiten Raum“ bewohnt: einen, der keine Antithese, aber ein Darüber-hinaus enthält. Und hier können wir auf Benoist zurückgreifen.
Denn seine angeführten Gewährsleute – Jakob Böhme, Spinoza, Schelling oder Heidegger – gründen ihre Einheitsmystik nicht in der Natur, sondern in einem – pantheistisch verstandenen – Gott, im Un-Grund oder im Seyn: in etwas, das über die Natur hinausgeht, aber nur im Zusammenhang mit ihr besteht und „Sinn macht“. Eine Ethik des Maßhaltens setzt Gelassenheit voraus, die das Verb „Lassen“ groß schreibt, die vom inneren Zwang des Machen-Müssens genesen ist.
Schon vor zehn Jahren hatte der Science-fiction-Autor Norman Spinrad diese Umkehrideologie um eine östliche Variante bereichert. Mit großer Voraussicht beschrieb er im Roman „Das tropische Millennium“ (1999) die Finanz- und Klimakatastrophen des 21. Jahrhunderts. Zur Verhinderung der totalen Apokalypse deutet er zuletzt eine Reaktivierung des Tao an – jener jahrtausendealten Einheitsmystik aus China. Mit Benoists Vorschlägen wäre dies restlos kompatibel.
Umkehr ist möglich
Apropos China: Daß eine solche „taoistische Umkehr“ nicht nur Einzeltherapie bleiben muß, sondern im globalen Ausmaß unter Beteiligung vieler möglich ist, das zeigt die Fortsetzung unseres anfänglichen Berichts: Als der Politiker der Investitionsbehörde das Mädchen mit seinem Geldbündel erschlagen wollte, griff die panisch nach dem Pediküren-Messer und erstach den Angreifer. Kurz darauf stand Deng Yujiao unter Mordanklage. Ihr drohte lebenslange Haft, wenn nicht gar die Todesstrafe.
Aber: Plötzlich boten Anwälte an, sie kostenlos vor Gericht zu verteidigen, und zahlreiche Internetteilnehmer machten Druck auf die Behörden. Das Resultat: Die 21jährige ist wieder auf freiem Fuß. So geschehen im Mai dieses Jahres. Viele Menschen kämpften für das Leben einer Frau, die Nein gesagt hatte zur Ausplünderung ihrer Person. Vielleicht ist auch dieser zweite Teil der Geschichte von übergreifender Symbolkraft.