Einer der brillantesten Intellektuellen Asiens“, preist der Spiegel den Autor Kishore Mahbubani auf dem Einband. Anscheinend kennt das Magazin nicht viele asiatische Intellektuelle. Sein Buch ist ein überlanges polemisches Traktat, keine intellektuelle Glanzleistung. Der gebürtige Inder, der Singapur als Botschafter bei den Vereinten Nationen vertrat und mittlerweile die Lee-Kuan-Yew-Schule für Regierungsführung leitet, hat sich einen Namen als vielschreibender Kolumnist in US-Zeitungen gemacht, wo er den Aufstieg Asiens bejubelt und genüßlich den Abstieg des Westens beschreibt, den er für das meiste Übel der Welt verantwortlich macht. Sein intellektuelles Strickmuster ist also ein recht schlichtes – genug, um Aufsehen zu erregen und gute Verkaufszahlen zu erreichen. Wie seine früheren Bücher ist auch sein aktueller Band zum gleichen Thema ein etwas wirr gegliedertes Potpourri, in dem sich Anekdoten, langatmige Zitate, unangenehme Wahrheiten und propagandistische Fiktionen munter abwechseln.
Nach Mahbubani hat der Westen zwar historische Meriten, indem er moderne Technologien, demokratische Regierungsformen, die Marktwirtschaft und kritisches, wissenschaftliches Denken erfand und weltweit verbreitete. Schließlich spricht und schreibt der Autor auch auf Englisch – nur mit Hilfe der Kolonialsprache kann er sich seinen chinesischen und malaischen Landsleuten verständlich machen. Doch mittlerweile hat Asien auf- und überholt. Es modernisiert durch die Übernahme der positiven Elemente des Westens – dazu zählen Rechtsstaatlichkeit, Massenbildung, ideologischer Pragmatismus –, ohne dabei zu verwestlichen.
Auf seinen unaufhaltsamen relativen Abstieg reagiert „der Westen“ – der mal als USA, mal als Europa, gelegentlich als beides definiert wird – mit trotziger Verweigerung und jeder Menge politischen Versagens. Er ist protektionistisch, zettelt illegale Kriege an (Kosovo, Irak) und ist für die Erderwärmung und die Weltarmut verantwortlich. Im Gegensatz dazu sind die Asiaten, vor allem China und Indien, friedliebende, sozial und ökologisch verantwortliche internationale Musterschüler. Deshalb sollte die Überrepräsentanz des Westens in den internationalen Organisationen, vor allem im Sicherheitsrat der VN, in der Weltbank und im IWF abgebaut und ihre Leitung in asiatische Hände übergehen. Asien verfüge ohnehin über die größten Devisenreserven der Welt. Die Legitimität des Sicherheitsrates leite sich nur daraus ab, wer den letzten Krieg gewonnen habe. Die Briten und Franzosen sollten ihre Sitze zugunsten eines gemeinsamen EU Sitzes räumen. Dafür sollten Indien und Japan je einen Sitz und Vetorechte erhalten.
Auch sonst spricht Mahbubani in seiner zornigen Philippika gelegentlich Wahrheiten aus. So habe der Westen die Demokratie „ikonisiert“. In einem ideologischen Kreuzzug soll sie überallhin exportiert werden, unabhängig vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft. Kulturelle Unterschiede zu leugnen und die Demokratie für universell zu halten, sei ein arrogantes Fehlurteil des Westens. Tatsächlich könne die Demokratisierung Haß gegen Minderheiten entfesseln (Jugoslawien, Indonesien) oder in der arabischen Welt islamische Fundamentalisten an die Macht bringen.
Ohnehin nehme es der Westen mit seinen hehren Prinzipien nicht so genau. Die Redefreiheit werde immer mehr eingeschränkt. Und obwohl die USA die Folter in Ägypten regelmäßig verurteilten, hätten sie doch ebenjene Dienste bei speziell eingeflogenen Gefangenen in Anspruch genommen. In ihrer Nahostpolitik befänden sich die USA im „Würgegriff“ der pro-israelischen Lobby, der sich US-Politiker aus Feigheit nicht zu widersetzen wagten. So hätten sie den französischen Nuklearhilfen zugeschaut und nichts getan, um Israel vom Bau von Atomwaffen abzuhalten, der ab 1967 erfolgte. Damit sei die Legitimität des Atomwaffensperrvertrags irreparabel geschädigt worden. Mahbubani hält den Krieg im Irak für einen Bruch des Völkerrechts und rät verklausuliert zu einem Prozeß in Den Haag. Doch auch der Bombenkrieg gegen Serbien sei nicht legitim gewesen.
Das Ergebnis des westlichen Politikversagens müßten vor allem die Europäer auslöffeln. Sie lägen „inmitten eines Meers der Wut in der islamischen Welt“. Bis zum Jahre 2040 werde sich die Bevölkerung Afrikas auf zwei Milliarden verdoppeln. Sie werde Europa angesichts des Entwicklungsversagens des Kontinents überschwemmen. Doch lasse die EU keinerlei strategisches Denken erkennen. Seit 20 Jahren hätten sich die ergebnislosen Alibitreffen der G7 in großsprecherischen Resolutionen tief besorgt über Afrika geäußert. Dennoch gehe es Afrika nicht viel besser. Doch außer dem Appell, die EU müsse „Frieden und Wohlstand“ mit ihren Nachbarn teilen, fällt dem Autor zur Abhilfe nicht viel ein.
Zu den unübersehbaren Schwächen des Buches zählt die propagandistische Idealisierung der Verhältnisse in Asien. Von Territorialkonflikten, Bürgerkriegen, der Unterdrückung ethnischer Minderheiten, den Machtrivalitäten zwischen China, Indien und Japan ist keine Rede. Die Tatsache, daß China Nordkorea und Pakistan mit Nuklear- und Raketentechnologie versorgte, wird mit Schweigen übergangen. Desgleichen die Menschenopfer des „Großen Sprungs vorwärts“, des Grenzkriegs mit Vietnam und des Massakers auf dem Tiananmen 1989. Und wenn Mahbubani höhnt, zwei Jahrzehnte an Burma-Sanktionen des Westens hätten nichts gebracht, liegt das doch daran, daß sie von China, Indien und den Asean-Ländern systematisch unterlaufen wurden.
Reine Propagandafiktionen sind auch die Reden von China als Muster-Nachbarland, das seinen Wohlstand (im Gegensatz zur bösen EU) mit allen teile, und von Indien als Modell des friedlichen Zusammenlebens mit dem Islam. Daß dem Autor die vier Kriege mit Pakistan, die Lage im Kaschmir, und der Terror und Gegenterror in Westindien unbekannt geblieben sind, ist nicht anzunehmen. Für wie dumm also will er seine Leser verkaufen? Es sind gerade jene unbeherrschten Behauptungen, die das Buch auf Stammtischgeplapper absenken und seine eher gedankenvollen analytischen Passagen entwerten. Das war nach Mahbubanis früheren Veröffentlichungen auch nicht anders zu erwarten.
Kishore Mahbubani: Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008, gebunden, 334 Seiten, 22,90 Euro
Dr. Albrecht Rothacher war bis 2006 Direktor an der Asien-Europa-Stiftung (Asef) in Singapur.
Foto: Pagodengesims: Leitung in asiatische Hände übergeben