Wer einen großen Preis verliehen bekommt, kann nicht vermeiden, daß er spätestens dann zur öffentlichen Person wird. Ein bekannter Fall ist Ernst Jünger, der sich 1982 anläßlich des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt/Main noch einmal sein Leben und Werk vorhalten lassen mußte. Neun Jahre zuvor durfte Konrad Lorenz die Vor- und Nachteile öffentlicher Wertschätzung erleben. Anlaß war die Verleihung des Nobelpreises am 10. Dezember 1973. Lorenz wurde für seine bahnbrechenden Leistungen auf dem Gebiet der Verhaltensforschung ausgezeichnet, konkret für die Entdeckung der Prägung der Graugans. Neben Elfriede Jelinek und Karl von Frisch, der den Nobelpreis 1973 gemeinsam mit Lorenz und Nikolaas Tinbergen erhielt, ist Konrad Lorenz der einzige österreichische Staatsbürger, der den Preis nach 1945 erhalten hat. Das schützte ihn nicht davor, daß mit eigentlich bekannten Details aus seiner Vergangenheit versucht wurde, seinen Ruf als moralische Instanz zu ruinieren.
Dabei hatte Lorenz im selben Jahr mit seinem Buch „Die acht Todsünden“ der zivilisierten Menschheit diesen Ruf erst wirkungsvoll unterstrichen. Obwohl der Text im wesentlichen bereits 1969 vorgelegen hatte, entstand der Eindruck, daß Lorenz auf die Warnungen des Berichts des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ (1972) reagierte, was seine Wirkung noch verstärkte. Lorenz ging es dabei auch um die bekannten Phänomene wie Umweltzerstörung, Technikwahn und Gefahren der Atomenergie, vor allem aber um die damit einhergehenden Vorgänge der Dehumanisierung. Die Übervölkerung zwinge zur „un-menschlichen“ Abschirmung vor der Unzahl sozialer Kontakte und wirke aggressionsauslösend. Hinzu komme die zunehmende Indoktrinierbarkeit der großen Menschenmassen und das „Abreißen der Tradition“, das sich in der zunehmenden Entfremdung der Generationen zeige.
Soweit bewegte sich das Pamphlet im Rahmen der gewohnten kulturkonservativen Argumentation. Aufreizend wirkte, daß Lorenz Erkenntnisse seiner biologischen Forschungen auf den Menschen anwandte. Die „zunehmende Intoleranz gegen alles im geringsten Unlust Erregende“ führe zum Schwund aller starken Gefühle: statt Liebe und Haß nur noch Langeweile. Befördert werde dies durch den fehlenden „Selektionsdruck“, der für das „Aufrechterhalten sozialer Verhaltensnormen“ sorgen würde. Viele Infantilismen der rebellierenden Jugend seien möglicherweise genetisch bedingt, weshalb er vom „genetischen Verfall“ sprach und die „Selbstdomestikation“ des modernen Menschen auf den Begriff der „Verhausschweinung“ brachte.
Seine Gegner monierten, daß Lorenz ähnliche These bereits in den frühen vierziger Jahren vertreten habe. Beispielsweise verglich er in seinem Aufsatz „Durch Domestikation verursachte Störungen arteignen Verhaltens“ (1940) Degenerationserscheinungen von Haustieren mit Verfallserscheinungen des Großstadtmenschen und kam zu dem Schluß: „Das immer von neuem mögliche Auftreten von Menschen mit Ausfällen im arteigenen sozialen Verhalten bildet eine Schädigung für Volk und Rasse, die schwerer ist als die einer Durchmischung mit Fremdrassigen, denn diese ist wenigstens als solche erkennbar und nach einmaliger züchterischer Ausschaltung nicht weiter zu fürchten.“
Abgesehen vom Jargon („Rasse“, „züchterische Ausschaltung“) beschreibt der Text das Problem, wie die Erosion der Gesellschaft zu verhindern sein könnte. Was im Zuge von 68 in den Aufgabenbereich der Sozialpädagogik fällt, die davon ausgeht, daß das Problem auf „weiche“ Faktoren beschränkt sei, denen man mit Erziehung und Appellen begegnen könne, fiel damals in den Bereich der Eugenik. Diese (auch Rassenhygiene genannt), die Steuerung der Bevölkerungspolitik aufgrund humangenetischer Erkenntnisse, war in den dreißiger und vierziger Jahren in vielen Ländern staatliches Programm, insbesondere in Skandinavien und den USA, und damit wissenschaftlicher Mainstream. Vor diesem Hintergrund erhält auch die Selbstaussage von Lorenz einen gewissen Erkenntniswert: „Daß die Leute ‘Mord’ meinten, wenn sie ‘Ausmerze’ oder wenn sie ‘Selektion’ sagten, das habe ich damals wirklich nicht geglaubt.“
Vor dem Hintergrund seiner Biographie wird dieser Satz plausibel. Lorenz, geboren am 7. November 1903 in Wien, war der Sohn eines berühmten Mediziners, der es als gefragter Orthopäde zu Reichtum gebracht hatte. Er dachte großdeutsch, hatte der katholischen Kirche aus pragmatischen Gründen den Rücken gekehrt und ließ seinen Sohn Konrad im calvinistischen Glauben erziehen. Aufgewachsen ist Lorenz in einer Villa vor den Toren der Stadt Wien, was ihn früh mit der üblichen ländlichen Fauna zusammenbrachte, die seine Leidenschaft weckte. Dem Vater zuliebe studierte er Medizin und durfte nach der Promotion in die Zoologie wechseln. Gefördert wurde er von Oskar Heinroth, den Ornithologen und Begründer der Ethologie. Lorenz baut sich eine eigene Ornithologische Versuchsstation auf und kann 1936 durch die Aufzucht der Graugans Martina das Phänomen der Prägung studieren. 1937 habilitierte er sich in Wien für Anatomie und Tierpsychologie und begab sich auf die Suche nach einer festen Anstellung. Im klerikalen Österreich war es naturgemäß schwer für einen bekennenden Darwinisten, eine finanzielle Förderung für seine Forschungen zu erhalten.
Deshalb bemühte sich Lorenz nach dem Anschluß um eine Möglichkeit im „Altreich“. Dabei war es entscheidend, seine nationalsozialistische Gesinnung zu belegen. Aus Opportunitätsgründen trat Lorenz deshalb in die NSDAP ein und betonte in seinem Aufnahmegesuch: „Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist und aus weltanschaulichen Gründen erbitterter Feind des schwarzen Regimes (von Schuschnigg).“
Mehr durch Zufall erhält er 1940 den Lehrstuhl für vergleichende Psychologie in Königsberg und entfaltet dort eine rege Publikationstätigkeit. Wichtig ist aus dieser Zeit insbesondere sein Aufsatz „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“ (1941), in dem er die „statische“ Auffassung Kants vom Kulturmenschen um den Aspekt der Entwicklung des Erkenntnisvermögens erweiterte. Daraus entwickelte sich die sogenannte „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ („Die Rückseite des Spiegels“, 1973) die davon ausgeht, daß unser Erkenntnisvermögen in Anpassung an die Welt entstanden ist. Daraus folgt, daß die Welt für uns zwar generell, aber nicht abschließend erkennbar ist. Die Evolution geht weiter.
Unter dieser Maßgabe hat Lorenz von seinen eigenen Erkenntnissen als Arbeitshypothesen gesprochen, die so lange Geltung beanspruchen können, bis sie falsifiziert sind. Diese an Lorenz’ Kameraden aus Kindheitstagen Karl Popper erinnernde Einstellung läßt auch seine apodiktischen Formulierungen der vierziger Jahre in einem anderen Licht erscheinen.
In dieser Zeit legte Lorenz auch die wissenschaftstheoretische Grundlage für seine späteren Arbeiten. In dem Aufsatz „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“ (1943) behandelt er die angeborenen Bedingungen, die es uns ermöglichen, etwas zu lernen. Die Fähigkeit zum Erlernen ist ein offenes Programm, das mehrere Möglichkeiten hat, verwirklicht zu werden. Das führt dazu, daß die Komplexheit des Angeborenen die Voraussetzung für Freiheit ist. Damit endet zunächst Lorenz’ wissenschaftliche Karriere. Er wird als Heerespsychiater eingezogen und gerät 1944 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1948 nach Österreich zurückkehrt.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten wegen seiner NS-Vergangenheit kann er bald an verschiedenen Instituten zur Verhaltensphysiologie forschen, von 1951 bis 1957 in Buldern/Westfalen, von 1961 bis 1973 in Seewiesen/Oberbayern. Zwischendurch bekleidet er verschiedene Honorarprofessuren und erhält zahlreiche Ehrendoktorhüte. Viele seiner Bücher werden Bestseller, so seine Tiergeschichten „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ (1949), „Die acht Todsünden“ (1973) und „Der Abbau des Menschlichen“ (1983).
In den siebziger und achtziger Jahren engagiert er sich in der österreichischen Umweltbewegung. So war aus dem „Vater der Graugänse“ das „ökologische Gewissen der Nation“ geworden. Der Spiegel adelte Lorenz kurz vor seinem Tod am 27. Februar 1989 sogar zum „Einstein der Tierseele“. Diese gut gemeinten Zuschreibungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Lorenz’ Sorge um den Menschen bis heute seine Gültigkeit behalten hat. Das wirklich Böse ist nicht die Aggression, sondern das Fehlen des Wertempfindens dem anderen Menschen gegenüber – das, was Karl Jaspers einmal das „moralische Versacken“ genannt hat.
Foto: Konrad Lorenz (r.) und Nikolaas Tinbergen: Übervölkerung zwingt zur „un-menschlichen“ Abschirmung