Ausgerechnet sein Lieblingsjünger Friedrich Gundolf, der wie kaum ein anderer am Mythos Stefan Georges mitgestrickt hat, prophezeite dem „Meister“ für die Zeit nach dessen Tod ein lange anhaltendes Vergessen-Werden. Nimmt man Zahl und Umfang der in den letzten Jahren erschienenen Bücher über den am 12. Juli 1868 in Bingen geborenen Dichter als Maßstab, so könnte man glauben, daß er derzeit eine geistige Auferstehung feiert; in den Feuilletons übertönt sein Rühmen die Distanzierungen von seinem elitären, männerbündischen Habitus mittlerweile deutlich, und fast scheint er neben Ernst Jünger und Gottfried Benn der dritte Lieblingsdichter einer gepflegt-konservativen Intelligenz geworden zu sein. Man darf sich verstören oder betören lassen Kann man indes wirklich von einer George-Renaissance sprechen? Eher handelt es sich um eine Normalisierung im Umgang mit einem der bedeutendsten und einflußreichsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, dem endlich wieder die Aufmerksamkeit zugemessen wird, die ihm zukommt — manchmal zwar aus etwas zeitbedingten Blickwinkeln als lyrisch veranlagter Homosexueller oder altabendländischer Gegenpol zur Bildungsmisere gesehen und oft mit einer gewissen, seinem Ruf als Reaktionär geschuldeten Koketterie gewürdigt, doch immerhin! Womöglich (ver-)führt die Lektüre eines merkwürdigen Zitates sogar den einen oder anderen Zeitungsleser dazu, einen der gleichermaßen prunkvollen wie schlichten Gedichtbände mit den in der Frühzeit pretiösen, später wuchtigen Titeln zur Hand zu nehmen und sich von jenem — aller biographisierenden Wühlarbeit zum Trotz — zutiefst fremdartigen Werk verstören oder betören zu lassen. Am 4. Dezember vor 75 Jahren verstarb der Dichter im schweizerischen Minusio, das ihm 1933 Refugium und Exil zugleich war. Seinem jüdischen Freund Ernst Morwitz, zeitweise eine Art Premierminister der Georgeschen Geistesmonarchie, ist es mitzuverdanken, daß seine Absage an das neue Regime deutlicher ausfiel, als es einigen der jüngeren Anhänger damals bewußt war. Der Kreis zerfiel bald, wenig von seinem Erbe rettete sich — nach einem letzten Aufbäumen im von Claus Graf Stauffenberg verübten Hitler-Attentat — über die Schwelle des Jahres 1945 hinüber, den Rest besorgten später Achtundsechziger und sozialdemokratische Bildungsreformer. Heute darf Stefan George wiederentdeckt und sollte auch, gerade um seiner Fremdheit willen, wiederangeeignet werden.