Christian Kracht, Jahrgang 1966, aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus stammend, ist unter den Autoren seiner Generation eine besondere, eine erratische Erscheinung. Mit Attributen wie Pop-Literat oder Dandy ist ihm nicht beizukommen, obwohl er manches davon hat. Die Versuche, ihn anhand von Äußerlichkeiten zu klassifizieren, verraten Unsicherheit. Kracht verunsichert Leser und Kritiker, weil er ihnen nachweist, daß ihre Lese- und Denkgewohnheiten brüchig, ja obsolet sind. Interessanterweise ist nie jemand auf die Idee gekommen, von ihm einen Roman zur deutschen Einheit zu verlangen. Das wäre auch absurd. Nicht, daß der Schweizer Weltenbummler und Kosmopolit an der deutschen Problematik desinteressiert wäre. Sein Roman „Faserland (1995) bezeugt das Gegenteil. Der Ich-Erzähler durchquert (West-)Deutschland, diesen „großartigen Industriestandort“, von Nord nach Süd, wo hinter künstlichen Fassaden nur Leere und Entkernung gähnen. Eine Ahnung von der vertanen Alternative des Landes weht ihn im unzerstört gebliebenen Heidelberg an, wo es „wirklich schön“ ist und „die Bäume schon grün sind, während überall sonst in Deutschland noch alles häßlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen. (…) Neckarauen. Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort.“ Auf dem Friedhof in Kilchberg am Zürichsee kann er das Grab von Thomas Mann — „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. “ — nicht finden. Für Kracht birgt Deutschland kein geistig-kulturelles Versprechen mehr, seine Vergrößerung um fünf neue Länder hat keine neue geschichtsphilosophische Perspektive mehr eröffnet. Warum also soll er sich für den Vorgang interessieren? Krachts Blick auf die westliche Zivilisation ist wesentlich von der Geschichtsphilosophie Friedrich Nietzsches inspiriert. Im Roman „1979“ (2001, JF 45/01) hat es einen schwulen Innenarchitekten nach Teheran verschlagen, während der Schah vor der islamischen Revolution gerade das Weite sucht. Da sein Blick auf die Realität ausschließlich ästhetisch bestimmt ist, begreift er nicht, was sich vor seinen Augen vollzieht. In Tibet wird er von chinesischen Soldaten aufgegriffen, als Spion verdächtigt und in ein Umerziehungslager gesteckt. Im lapidaren Berichtsstil wird geschildert, wie er durch Prügel, Hunger und Indoktrination in kurzer Zeit dazu gebracht wird, das neue Lebensmodell zu akzeptieren. „Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen“, heißt es zum Schluß. Der Roman wurde als ein Dokument des westlichen „Selbsthasses“ und Kracht als „ästhetischer Fundamentalist“ bezeichnet. In Wahrheit rollt hier die Tragödie von Nietzsches letzten Menschen und ihres banalen Nihilismus ab. Dieser Nihilismus, schreibt Robert Spaemann, „nennt sich heute selbst Liberalismus und hat für alles, was sich ihm nicht fügt, die Einschüchtervokabel Fundamentalismus bereit. Ein Fundamentalist ist in diesem Sinne jeder, dem es mit irgend etwas ernst ist, das für ihn nicht zur Disposition steht. Für den banalen Liberalismus ist Freiheit Vermehrung von Optionschancen. Er läßt aber keine Option gelten, für die es sich lohnte, auf alle übrigen zu verzichten. Von einer solchen Option aber spricht das Evangelium: von dem Schatz im Acker und der kostbaren Perle, für die der, der sie findet, alles verkauft. Dieser Schatz war es, der der europäischen Kultur ihre vitale Mitte gab.“ Der Schatz wurde aufgegeben, verschleudert, ist aufgebraucht. Wo einst die vitale Mitte war, klafft ein Vakuum, das einen ständig wachsenden Sog ausübt. Wie in den entkernten westlichen Gesellschaften die Sehnsucht nach der Erfüllung im Totalitären anschwillt, das beschäftigt Christian Kracht, einen Beobachter von jüngerscher Kühle und Schärfe. Nun also sein neuester, bisher schwierigster Roman, der nächste Woche erscheint: „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, eine düstere, kontrafaktische Utopie über Europa im 20. Jahrhundert, die in verfremdeter Form von unserer Gegenwart handelt. Rußland war seit dem Tunguska-Meteoriten 1908 durch Viren verseucht, Lenin blieb in der Schweiz und löste hier die Revolution aus. Die Schweizer Sozialistische Sowjetrepublik (SSR) befindet sich seit 96 Jahren im Krieg mit dem faschistischen Regime in Deutschland, das sich mit England verbündet hat. Heidelberg ist zerstört. Die Schweiz hat die Revolution bis nach Afrika getragen, die Befreiungsbewegungen unterstützt, Städte, Krankenhäuser, Schulen gebaut und militärischen Nachwuchs ausgebildet und rekrutiert. Der Ich-Erzähler, der Parteikommissar von Neu-Bern, ist ein Afrikaner. Er soll den zwielichtigen Oberst Brashinski verhaften, der sich aber in das Reduit, eine in das Alpeninnere getriebene, uneinnehmbare Festung, die Zentrale des Imperiums, begeben hat. Der Erzähler folgt ihm. Seine Reise ist die Umkehrung der Fahrt, die der Erzähler aus Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ ins Innere Afrikas unternimmt. Wo er das Herz der Revolution, ihre politische und spirituelle Mitte erwartet, gähnt jedoch Leere. Das Reduit hat sich längst von der Außenwelt entkoppelt, es ist nur „ein magisches Ritual, ein leeres Ritual“, eine Simulation, die sich selbst genügt. Die Räume sind vollgestopft mit Wimpeln, Fahnen, altertümlichen Waffen, Ikonen, Statuen, Musikinstrumenten, Uhren usw. — den Überresten einer Kultur, die niemand mehr zu deuten und zu gebrauchen weiß, denn während des Krieges ist die Schriftkultur und damit das historische und kulturelle Gedächtnis verlorengegangen. Während seiner tagelangen Streifzüge findet der Erzähler nie „ein Buch, nie auch nur einen einzigen geschriebenen Satz“, und er — ein Schwarzafrikaner, wie gesagt — kommt zu dem Schluß, „daß hier oben etwas zu Ende ging, daß eine fürchterliche und allumfassende Dekadenz des Geistes betrieben wurde“. Er betrachtet die riesigen, sich über tausende Meter erstreckenden Wandfresken, auf denen die Geschichte der Schweiz erzählt wird. Je mehr die Bilder sich der Gegenwart nähern, desto abstrakter werden sie, bis sie nur noch aus unverbundenen, amorphen Figuren und aus schwindelerregenden („vertiginös-nausealen“) Kreisen bestehen, wie der Erzähler sie aus der afrikanischen Höhlenmalerei kennt. Eine neue Stufe der Regression ist erreicht: Der Totalitarismus war immerhin ein Kind der Moderne, nach ihm kommt der Sturz in einen vorgeschichtlichen Atavismus. Die Afrikaner verlassen unterdessen die Städte, die ihnen die europäischen „Pilger des Fortschritts“ (Joseph Conrad) erbaut haben, schnell hüllt der Dschungel die Zeugnisse der Zivilisation ein. Der Schweizer Architekt, der sie projektiert hat, erhängt sich aus Verzweiflung. „Er hing ein paar Tage, dann aßen Hyänen seine Füße.“ Unter den deutschsprachigen Autoren seiner Generation ist Christian Kracht der originellste und kühnste. Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, gebunden, 149 Seiten, 16,95 Euro
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