Am 9. Dezember 1608 wurde in London einer der größten englischen Dichter geboren. John Miltons Hauptwerk „Paradise Lost“ (1667; endgültige Fassung 1674, im Jahr seines Todes), das seinen Langzeitruhm begründete, ist das bedeutendste religiöse Epos der Weltliteratur. Miltons dorniger Weg zu literarischer Vollendung verlief im Spannungsfeld zwischen Buchgelehrsamkeit und öffentlichem Engagement, in der Polarität zwischen Vita contemplativa und Vita activa. In eine gutsituierte anglikanische Familie niederkirchlicher Richtung (Low Church) hineingeboren, wurde er auf der Londoner St. Pauls School humanistisch erzogen und erwarb nach Studien am Christs College in Cambridge 1632 den akademischen Grad eines Master of Arts. Milton, dem die Berufung zum Dichter früh lebensprägend wurde, zog sich in den dreißiger Jahren auf den väterlichen Landsitz Horton zurück. Während dieser Zeit entstanden frühe Werke wie die Zwillingsgedichte „LAllegro“ und „Il Penseroso“, das Maskenspiel „Comus“ (1634) und die Elegie „Lycidas“ (1637). Der seit 1642 offen ausbrechende englische Bürgerkrieg bedeutete einen markanten Einschnitt in Miltons Leben. Obwohl diese Auseinandersetzung für die Verwirklichung seiner hochfliegenden, auf das Epos zielenden dichterischen Pläne ein retardierendes Moment darstellte, sollte sie sich letzten Endes sogar als Impulsgeber für sein episches Schaffen erweisen. In dem Konflikt zwischen Königstreuen und Anhängern des Parlaments stellte sich Milton von Anfang an auf die Seite der Aufständischen gegen den hochkirchlich gestützten Stuart-Absolutismus. Für Milton schlug jetzt seine Stunde als Publizist. In seiner „Areopagitica“ (1644) trat der auf die geistige Freiheit als unveräußerliche Mitgift des Menschen pochende Milton in der Rolle eines praeceptor Angliae mit noch heute gültigen Argumenten für die Verteidigung der Pressefreiheit gegen Zensurmaßnahmen ein. In der unter Oliver Cromwells Führung siegreichen Revolution erblickte er fortan die Möglichkeit, nach puritanischen Vorstellungen ein Gottesreich auf englischem Boden zu errichten. Die kleinen Gemeinden der mit Cromwell gegen die Presbyterianer triumphierenden Independenten schienen Miltons Ideal noch am ehesten zu entsprechen. Im Wettstreit mit der Antike wollte er Ruhm erlangen Ab 1649 als lateinischer Sekretär für ausländische Angelegenheiten, in Wirklichkeit als durchaus unbequemer Propagandaminister Cromwells amtierend, widmete er sich der ihm von den neuen Machthabern übertragenen Aufgabe, die am 1. Januar 1649 erfolgte und ganz Europa empörende Hinrichtung Karls I. zu rechtfertigen. Dazu plädierte der in der Tradition der Monarchomachen argumentierende Milton in lateinischen Streitschriften wie „Defensio pro Populo Anglicano“ (1651) und der „Defensio Secunda“ (1654) für die Rechtmäßigkeit des Königsmords zur Abwehr von Gewaltherrschaft. Obgleich er in seinen hohen Erwartungen längst enttäuscht worden war, wünschte Milton noch 1659 in „The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth“ ein auf Volkssouveränität beruhendes Gemeinwesen herbei, das mit dem göttlichen Gesetz und dem Naturrecht übereinstimmen sollte. Die Wiederherstellung des Königtums im Jahr 1660, dem annus horribilis mit der Rückkehr der Stuarts, war für den nunmehr geächteten Milton eine abgrundtiefe Enttäuschung; literarisch wurde die Restaurationszeit sein produktivster Lebensabschnitt. Nach dem Zusammenbruch aller weltlichen Hoffnungen sah sich der in seiner Gottesgläubigkeit unerschütterliche Milton genötigt, das Himmelreich auf Erden in das Innere des Menschen zu verlagern. Diese Verinnerlichung, die seine Spätwerke „Paradise Regained“ (1671) und „Samson Agonistes“ (1671) fortsetzen, entsprach den Denkgewohnheiten der Puritaner, für die das Heilsgeschehen sich primär im Herzen des Menschen vollzog. Ab Mitte der fünfziger Jahre begann der inzwischen völlig erblindete Milton — dieses Schicksal hat er in seinem großartigen Sonett „On his Blindness“ verarbeitet — mit der Abfassung von „Paradise Lost“, dessen erste beide Bücher noch unter dem Commonwealth entstanden. Hatte er ursprünglich an ein patriotisches Artus-Epos gedacht, wählte der von der Nationalgeschichte auf die Heilsgeschichte verwiesene Milton jetzt mit einem Zentralereignis aus der biblischen Geschichte ein, wie er betonte, größeres Thema, das die gesamte Menschheit anging. Nachdem Torquato Tasso in seinem Kreuzzugsepos „La Gerusalemme Liberata“ noch weltliches und religiöses Thema verquickt hatte, arbeitete Milton nun einen rein religiösen Handlungsplan aus. In „Paradise Lost“ wird der alttestamentliche Mythos vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies zum Brennpunkt, in dem sich die ganze Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht und endgültigen Anbruch des Gottesreiches zusammenziehen läßt. „Paradise Lost“ ist also als Theodizee angelegt, als Rechtfertigung von Sünde, Leiden und Tod auf dem von Gott verordneten Weg zu höherem Leben. Es handelt sich um das Paradoxon einer felix culpa, weil der Sündenfall eine Schuld darstellt, die die Güte Gottes herausfordert und somit das Heil des Menschen vollendet. Dieses theologische Konzept gestaltet Milton in enger formaler Orientierung am klassischen Epos, insbesondere Vergils „Aeneis“. Für seinen literarischen Ehrgeiz war diese Verfahrensweise unabdingbar, um dauerhaften Ruhm zu erlangen, der ihm nur im Wettstreit mit der Antike möglich erschien. Wie Vergils beginnt auch Miltons Epos mit Themennennung und Musenanruf und setzt in seiner Handlung gleichfalls in medias res ein. Dem lateinischen Vorbild folgt „Paradise Lost“ auch in seinem zweigliedrigen Aufbau, den Milton streng symmetrisiert. Nicht zuletzt zeigt sich der die Freiheiten des Blankverses souverän nutzende Milton in seinem sublimen Sprachduktus dem hohen Stil Vergils ebenbürtig. Trotz seiner äußeren Anlehnung an das klassische Epos ist Miltons Emanzipation von dem antiken Vorbild unverkennbar, und durch die glänzende poetische Hülle scheint die christlich-puritanische Substanz. An die Stelle der Muse tritt der Heilige Geist, und an die Stelle von Vergils einem Helden Aeneas treten von Anfang an zwei, der sündig gewordene Mensch Adam und Christus, als „one greater Man“ bezeichnet. In seiner Betonung der bloßen Menschlichkeit Christi ist Milton Arianer, in dem die kalvinistische Prädestinationslehre ablehnenden Beharren auf der Adam zugesprochenen Willensfreiheit Arminianer. In der anthropomorphen Gestaltung Gottvaters steckt ein spezifisch puritanischer Zug. Innere Beteiligung an Satans Revolte Am glanzvollsten und spannungsreichsten hat Miltons puritanisch-revolutionäres Erbe in der Konzeption Satans Eingang in „Paradise Lost“ gefunden. An ihm, gewissermaßen dem dritten Helden, scheiden sich bis heute die Geister. Während der eingefleischte Tory Dr. Johnson den puritanischen Revolutionär nicht ausstehen konnte, sah der revolutionäre Romantiker William Blake in dem tragisch gedeuteten Satan den heimlichen Helden und meinte, daß Milton, ohne es zu wissen, der Partei des Teufels angehört habe. Ist in dem Autor des „Verlorenen Paradieses“ noch der verkappte Revolutionär erkennbar? Satan ist zweifellos die faszinierendste Gestalt des Epos, neben der die theologisch eindeutig positiv besetzten Leitfiguren blaß wirken; die Anziehungskraft des Bösen gegenüber dem Guten hat auch vor der Literatur nie haltgemacht. Allerdings wird namentlich in den ersten beiden Büchern Satan trotz seiner Erniedrigung in seinem trotzigen Aufbegehren und seiner unbeugsamen Widerstandskraft so bewegend dargestellt, daß ihm eine gewisse Größe nicht abzusprechen ist. Die Szenen, in denen Satan seine auf intellektuellem Format beruhende brillante Rhetorik ausspielt — im Höllenrat, wo er die gefallenen Engel auf Rache gegen Gott einzuschwören sucht, und auf dem Höhepunkt im neunten Buch, als Eva seinen einschmeichelnden Worten erliegt —, sind die Leckerbissen des Epos. In der inneren Beteiligung Miltons an Satans Revolte scheint Stolz auf die eigene Vergangenheit mitzuschwingen. „Paradise Lost“ ist ein ausgesprochen elitärer Text. Sowohl durch seine archaisch-komplizierte Sprache als auch durch seinen unübertroffenen Bildungsreichtum stellt er höchste Anforderungen an den Leser. Wer die Herausforderung annimmt, wird durch ein Lektüreerlebnis entschädigt, das den Vorzug gerade älterer großer Literatur demonstriert: Teil eines kollektiven Gedächtnisses zu sein, das ganz andere geistige Horizonte und ganz andere Menschenbilder bereithält als die uns heutzutage unumgänglich aufgedrängten. Ungelesen wäre Miltons berühmtes Epos, dessen emanzipatorisches Potential noch nicht ausgeschöpft ist, tatsächlich ein verlorenes Paradies. Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über John le Carré (JF 43/08). Illustration von Gustave Doré für John Miltons Epos „Paradise Lost“, 1866: Das emanzipatorische Potential ist nicht ausgeschöpft