Von moderner Kunst zu reden, ist eine mißliche Sache. Das Wort bleibt notwendig unbestimmt. Gegenstand, Feld, Adressat, Horizont, Kriterien – all das entzieht sich begrifflich, gleicht einem Stochern im Nebel. Auch deshalb, weil es seit Jahrzehnten keine „Kunstentwicklung“ mehr gibt – als bestimmbar zielgerichteten Prozeß. So kommt ans Ende nicht nur das Stilmodell, welches das Schöne als synthetischen Ausdruck gemeinschaftlichen Lebens in einer Zeit ansah. Am Ende ist vielmehr auch der logische Zusammenhang der Künste überhaupt: Kunst als in sich mannigfaches und doch kohärentes System einer symbolischen Form mit definierten Gattungen, professionellen Methoden, dazu einer reichen Vergangenheit, Traditionsbildung und animiertem Publikum. In diesem Sinn existiert „Kunst“ heute nicht mehr. Die uns bekannte, aussagbare Kunst endet um 1950 mit Abstraktion und Informel. Für eine kurze Periode erschien das kühn stilisierte Tafelbild als kunstgeschichtliches Endprodukt; im Zeichen des „internationalen Stils“ ward es propagiert als der universell gültige, ästhetische Wert. Danach verließ man freilich das System der Gattungen, jeder Traditionsbezug wurde gekappt. Es vollzog sich jene Entgrenzung des Kunstbegriffs, der seitdem alles und nichts meinen kann: die Fettecken Beuys‘, Verpackungen Christos oder das kunstwürdige Unkraut auf der Documenta 1997 – hin und wieder sogar altmeisterliche Kunst, so die Flügelaltäre Werner Tübkes. „Kunst“ ist heute, was als solche „codiert“ wird und dafür gilt. Bestimmend sind „Diskurs“ und Markt. Knapp gefaßt, läßt sich das Ergebnis der letzten fünfzig Jahre markieren durch vier Begriffe: Autonomisierug, Entgrenzung, Vergesellschaftung, Ökonomisierung. Von der Gegenwart aus, so der Kunsthistoriker Kurt Badt 1971, läßt ein Kunstverständnis der Tradition sich nur noch als „eine Art Archäologie“ betreiben. Die Komplikationen bleiben ausgeblendet, solange man unter sich bleibt: hier die Agenten des Avantgarde-Systems, dort die historischen Spezialisten; die desinteressierte Öffentlichkeit schließlich hat das Ästhetische als Bedeutungsfaktor aus Seelenhaushalt und Alltag längst ausgeschieden. Anders freilich wird die Fragmentierung des Wirklichen dort brisant, wo der Kunsthistoriker sich auch als ästhetischer Zeitgenosse versteht und in seiner Wahrnehmung Tradition und Gegenwart bewußt vermitteln will. Doch übersteigt die diffuse Multikultiwelt allen Idealismus, mit seiner Integrationsbemühung wird er nur produktiv scheitern. Es sei denn, ihm gelänge eine substantielle Kritik aus innerem Abstand, wozu der ephemere Kunstbetrieb nicht mehr in der Lage ist. Ein solcher Fall liegt vor bei dem Kunsthistoriker Martin Gosebruch (1919-1992), der neben Hans Sedlmayr einer der wenigen seiner Zunft war, die es mit dem aktuellen Kunstgeschehen aufzunehmen wagten. Der geborene Essener (sein Vater war Direktor des Folkwang-Museums), bei Ernst Buschor und Hans Jantzen ausgebildet, arbeitete zunächst (1952/53) in der Hamburger Kunsthalle, 1954/55 an der Hertziana in Rom. Von 1965 bis 1986 hatte er den kunsthistorischen Lehrstuhl der TU Braunschweig inne. Fachlich arbeitete er über christliches Mittelalter und italienische Renaissance und hielt stets einen normativen Horizont des Urteils wach: Seine Auffassung von der „höheren Wahrheit der Kunst“ mündet ins Konzept vom „synthetischen Akt des schöpferischen Geistes“ und die Idee vom „Absoluten“ als „Ziel und Grund aller Geschichtsbewegung“. Früh schon setzte er sich ein für den Hamburger Maler Wolfgang Klähn (Jahrgang 1929). Er begleitete dessen Schaffen, das die Formsprachen des Kubismus und Surrealismus kreativ verarbeitete. Beiden hat nun der Seemann-Verlag einen prachtvollen Band gewidmet, dessen Bildteil das Werk Klähns in all seinen Facetten würdigt und so zur beredten Anschauung eines gemäßigt modernen Meisters wird. Die Texte hingegen versammeln Gosebruchs Äußerungen zur Kunst im 20. Jahrhundert: Festvorträge, Kunstkritiken, Buchrezensionen, Ausstellungsbeobachtungen und ästhetische Grundsatzäußerungen zwischen 1952 und 1991, nicht zuletzt Würdigungen des Schützlings Klähn. So entsteht eine faszinierende Auseinandersetzung mit der ästhetischen Realität der (Post-)Moderne, auch mit Fachkollegen (Sedlmayr) und Theoriepositionen (Arnold Gehlen), in bemerkenswerten Organen (Scheidewege, Konservativ heute), schließlich gemeinsam mit dem Freund Armin Mohler (in „Wirklichkeit als Tabu“ 1986). Der Leser mag exemplarisch hier mit verfolgen, welch systematische und begriffliche Schwierigkeiten einem Urteil erwachsen, das Tradition in die Gegenwart einbringt, nicht abstößt, und somit Kultur grundsätzlich als Überlieferungsgeschehen auffaßt. In nuce aktualisieren das die Erfahrungen der Documenta – westdeutsche Leistungsschauen der Kunst seit 1955, die ein postkonventionell-internationales Konzept zugrunde legten. Gosebruchs Betrachtungen reflektieren exakt die Phasen der vierzig Jahre von 1955 bis 1992. Die Kasseler Documenten, zwischen 1955 und 2007 alle vier, fünf Jahre durchgeführt, würdigten zunächst – nach Nazismus, Krieg und Zerstörung – die klassische Avantgarde, zumal ihre deutschen Exponenten („Wiedergutmachung“). Bis 1964 standen sie unter der Ägide von Werner Haftmann. Gerade er rief 1959, man blickte auf die Nachkriegszeit zurück, die Abstraktion zur „Weltsprache“ aus – im Kalten Krieg ein plausibles Gegenprogramm zum Sozialistischen Realismus. Anders als die USA hielt Deutschland diese Doktrin noch 1964 auf der dritten Documenta fest. Nun kam der Bruch: Mit der „neuen Unübersichtlichkeit“ setzte sich der Abschied vom Werkbegriff durch. Die alte Kasseler Führung trat ab. Das Jahr 1968 brachte völlig Neues. Die vierte Documenta („americana“) zeigte „die Aufsplitterung der Szene in eine komplexe Vielfalt neuer Medien, Materialien, künstlerischer Organisations- und Produktionsformen“ (Kimpel). Jetzt wurde Bazon Brocks Besucherschule zwingend. 1972 zementierte die Preisgabe des Kunstbegriffs und entgrenzte die Ausstellung zur „Alltagsanalyse“ unter dem Stichwort: „Befragung der Realität – Bildwelten heute“. Die Documenta wird nun zur „begehbaren Ereignisstruktur mit sich verschiebenden Aktionszentren, ein Prozeß“. Der produzierte „gesellschaftliche Ikonographien“ und „privatistische Verrätselungen“, blieb weithin jedoch nur eine „Materialsammlung“. Die siebte Documenta 1982 wählte als Motto: „Viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet / Bilden eine Reihe vieler farbiger Dinge“. Kopflastig wollte dagegen 1997 die zehnte Schau ein „politisches Forum sein für Debatten und Reflexion“, während man 2002 unter dem Stichwort „Entortung“ quasi sich selber abschaffte: Die Documenta war jetzt nur mehr ein global entgrenzter, disloziierter Kommunikationsprozeß, ein „interkontinentales Netzwerk der Diskurse“. Um diese Aufhebung des Kunstbegriffs kreist vor allem Gosebruchs großer Aufsatz 1972: „Ein Nein zur Documenta“. Er nimmt die dort propagierte „offenhaltende Vagheit“ aufs Korn und stellt andererseits die vielfältigen „Individuellen-Mythologien-Selbstdarstellungs-Prozesse“ in Frage, problematisiert schließlich die neue These von der Kunst als das, was eben als solche „angesehen und akzeptiert“ werde. Hier verdichtet sich die Skepsis des gediegenen Kunstkenners seit den 1950er Jahren, seine kritischen Motive einer Maßstablosigkeit moderner Kunst, ihrer inflationären Selbstauflösung und der Opportunismus des „großen Man“, das sich heute beeilt, nur eben „dafür“ zu sein, wie „man“ vor hundert Jahren halt „dagegen“ war. Die Schrumpfung des „Stils“ hat Gosebruch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verfolgt, das Verschwinden der Schönheit und eine gestalterische Beliebigkeit („also kann jedes alles sein“), die auf Kritikerseite interpretatorisch fortwuchert; tatsächlich wären etwa die Besucherhandreichungen des Hamburger Bahnhofs in Berlin meist willkürlich umschreibbar. Das sprachliche Verhältnis zum Objekt verfällt also, wird kontingent. Dem stellt Gosebruch nun seine Definition von Kunst entgegen als dem „Glanz des Lebendig-Wahren und damit in der Zeit das Beständige“. Zum zentralen Motiv wird dabei die „Einheit“, liegt sie doch allem Lebendigen zugrunde. Deshalb fordert sein Kunstbegriff die „Konzentrik des Individuellen und des Universalen oder die Einheit im Mannigfaltigen“, die sich in der Idee verwirklicht. Aber wenn man „keine Ideen der Dinge zulassen will“, meint Plato, „so wird man keinen Gegenstand mehr haben, auf den man sein Nachdenken richten kann“. Diese „Destruktion der Seinstranszendenz“ beschreibt Gosebruch in der Schrift für Armin Mohler. Bei allem Pessimismus hält er die Möglichkeit der Kehre offen. „Konservativ“ bedeute, so heißt es einmal, zum Grund der Dinge durchzustoßen und anzuerkennen, „was das Gesetz des Ganzen fordert. (…) Vielleicht wird es die Bestimmung des Abendlandes sein, durch die Idee der Freiheit hindurch das Wesen des Schöpferischen wieder zurückzugewinnen, das einst am Gott der Genesis erfahren worden war. Dann wäre es Kunst, die wieder zur Theologie führte.“ Martin Gosebruch: Wolfgang Klähn und die Krise der Moderne. Essays aus fünf Jahrzehnten mit einem Beitrag von Walter Otto. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Thomas Gädeke. E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2007, gebunden, 416 Seiten, 39,90 Euro Abbildung: Wolfgang Klähn, Geborgenes Werden (Wasserfarben, 1953): Ein gemäßigt moderner Meister