Häufig verleitet der Zwang, in wissenschaftlichen Arbeiten respektable akademische Literatur zu zitieren, zu einer eigentümlichen Blässe und Informationskargheit der Darstellung, versuchen doch jene Quellen oft aus der sperrigen Wirklichkeit irgendwelche vom Hauch der Zeitlosigkeit umwehten Theoriekonstrukte zu basteln. Das läßt sich auch im Werk des Politologen Martin Christian Schäfer trefflich besichtigen. Zum Kern seines Anliegens, der russischen Zentralasienpolitik, dringt er erst nach 82 Seiten unvermeidlichen akademischen Grießbreis vor. Leider ist der Text dreißig Seiten später auch schon zu Ende. Als erklärende Theorie für die russische Außenpolitik hat der Autor den Neorealismus ausgewählt, die Orientierung am nationalen Machtinteresse. Das mag manchen einigermaßen banal anmuten, verlangte vom Autor jedoch intellektuellen Mut, sind doch die meisten deutschen Internationale-Beziehungs-Lehrstühle dem harmoniesüchtigen multilateralen Interdependenzdenken verhaftet, dem der Rekurs auf nationale Interessen (der von Rußland, China und den USA schnörkellos verfochten wird) ebenso unverständlich ist wie der rückgratfreien deutschen Außenpolitik. Schäfer sieht Rußlands wachsenden Einfluß in Zentralasien grundsätzlich als legitim an. Es suche den Raum als „Pufferzone“ gegen islamistische Umtriebe zu stabilisieren, zumal die hauptsächlich im Untergrund des Ferganatals operierende Islamische Bewegung Uzbekistans und Hizb ut-Tahrir, die mit saudi-arabischem Geld und pakistanischer Unterstützung ein islamistisches Kalifat in ganz Zentralasien bzw. Turkestan errichten wollen, wieder deutlich erstarken. Nur ein schmaler Landstreifen von fünfzig Kilometern trennt das Hauptsiedlungsgebiet der Baschkiren, einer der größten Volksgruppen der russischen Muslime, in Baschkorstan von Kasachstan. Die meisten der korrupten Regime Zentralasiens halten sich nur durch brutale Repression im Sattel. Zu Recht sieht Schäfer die armen Gebirgsrepubliken Kirgisien und Tadschikistan als weitgehend gescheiterte Staaten. In Kirgisien wurden nach der verunglückten Tulpenrevolution von 2005 nur die Günstlinge der Präsidenten ausgetauscht. Tadschikistan laboriert noch unter den Folgen des Bürgerkriegs von 1992 bis 1995 und der endemischen Drogensucht. In dem von den Taliban befreiten Afghanistan werden derweil neunzig Prozent der in Eurasien konsumierten Opiate hergestellt. Sechzig Prozent werden über die Nordgrenze nach Rußland geschmuggelt, wo etwa die Hälfte der Suchtgifte dank der gestiegenen Kaufkraft im Lande selbst abgesetzt wird. Da Rußlands wirtschaftliche Erholung ausschließlich dem Export fossiler Energieträger geschuldet ist (mit Anteilen von 55 Prozent an den Exporten und 25 Prozent am BIP) und Rußland gleichzeitig Investitionen in die Exploration und Erschließung neuer Öl- und Erdgasfelder vernachlässigt hat, benötigt es den Zugriff auf zentralasiatische Energiequellen, die es dank seiner Pipeline-Monopole von Gasprom und Transneft billig einkaufen und teuer zu Weltmarktpreisen im Westen verkaufen kann. Die wieder weitgehend staatlich kontrollierten russischen Großkonzerne haben sich deshalb gezielt in Energiefirmen und Rohstoffproduzenten, aber auch in Lieferanten von Baumwolle und Bauteilen für die Rüstungsindustrie eingekauft. Diese Kapitalbeteiligungen entsprechen nun der russischen Hegemonialstellung. Auch wenn die russische Energiepolitik den expliziten Auftrag hat, die Interessen Rußlands zu verteidigen, sieht Schäfer die Wiedererrichtung der russischen Vorherrschaft über seine postsowjetische Einflußsphäre als legitim an. Diesem Zweck dient auch eine im Jahr 2000 gegründete Eurasiatische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der neben Rußland alle Länder Zentralasiens (außer Turkmenistan) und Weißrußland angehören und die angeblich mit bindenden, das Landesrecht brechenden Beschlüssen eine Zollunion eingerichtet hat. An der Realität dieser meist nur auf Propagandapapier bestehenden Fortschritte darf man jedoch zweifeln. 1992 wurde ebenfalls auf russische Initiative in Taschkent ein „Kollektiver Sicherheitsvertrag“ mit einer zugehörigen Organisation (OKSV) gegründet. Mit wechselnden Mitgliedschaften blieb er bis 1999 weitgehend handlungsunfähig. Heute beinhaltet er gegenseitige Beistandspflichten im Falle einer äußeren Aggression und umfaßt die EWG-Mitglieder zuzüglich Armenien. Die OSKV hat den Bündnispartnern bisher gemeinsame schnelle Eingreiftruppen, russische Truppenstationierungen und verbilligte russische Waffenlieferungen ermöglicht. Sie sei aber, meint Schäfer ohne große Plausibilität, kein Instrument für den russischen Einfluß im postsowjetischen Raum. Ebenso ambitioniert ist eine ursprünglich chinesische Initiative für Zentralasien, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Zunächst diente sie zur beiderseitigen Demilitarisierung der chinesischen Grenze zu den GUS-Staaten und zu Grenzkorrekturen im chinesischen Interesse wie am Ussuri und gegenüber Kirgisien. Neben China und Rußland sind alle Zentralasiaten (ohne das neutrale Turkmenistan) Mitglieder. Heute wird in einem russisch-chinesischen Duumvirat die militärische Terrorbekämpfung in Xinjiang (Ost-Turkestan), wo die uigurische Bevölkerungsmehrheit von den Han-Chinesen brutal kolonisiert wird, in Zentralasien und in Sibirien in Großmanövern mit massiver Feuerkraft geübt. Laut dem Autor pflegt China freundschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarländern, um seine Modernisierung und sein Wirtschaftswachstum zu sichern. Dies spräche auch für eine langfristige Zusammenarbeit zwischen Rußland und China – auch um gemeinsam in der Abwehr der US-Hegemonie eine multipolare Weltordnung zu schaffen. Denn es sind nach ihm nur die Unfrieden stiftenden Amerikaner, die die russische Einflußsphäre im postsowjetischen Raum nicht respektieren und Putins freundliche Einladung zur Truppenstationierung im Jahr 2001 zur Beseitigung des gemeinsamen Taliban-Problems zu demokratiepolitischer Agitation und für den Bau konkurrierender Ost-West Pipelines (Baku-Tiflis-Ceyhan) mißbrauchten, bis sie schließlich von ihrem schlecht gewählten usbekischen Verbündeten 2005 wieder aus der Region hinausgeworfen wurden. Dabei übersieht Schäfer, daß die US-amerikanische Zentralasienpolitik, wäre sie denn erfolgreicher, im neorealistischen Licht zu ihrer Interessen- und Einflußsicherung genauso legitim ist. Während Rußland und China zur „Stabilisierung“ der Region den Status quo der Herrschaft der korrupten postkommunistischen Despoten zu sichern suchen und damit indirekt den islamistischen Untergrund als einzig gut organisierte Opposition begünstigen, setzen die bislang vergeblichen westlichen Strategien auf demokratische Reformen, die sich in Zentralasien auf relativ hohe Bildungsstandards und breite, wenngleich verarmte Mittelschichten stützen könnten. Damit verfolgt der Westen wohl das intelligentere und potentiell nachhaltigere Stabilisierungskonzept. Daß im Lichte seiner sehr neorealistischen Weltsicht nicht zuletzt China begehrliche Blicke nicht nur auf die Mongolei, Kirgisien, große Teile Kasachstans und auf die sich entleerenden rohstoffreichen Weiten Sibiriens geworfen hat und entsprechende historische Ansprüche liebevoll pflegt, ist zwar dem Autor, aber sicher nicht dem Kreml entgangen. Entsprechend mißtrauisch werden chinesische Entwicklungs-, Rohstoff- und Infrastrukturprojekte in Russisch-Fernost und Zentralasien tunlichst konterkariert und, wo möglich, systematisch blockiert. Für Schäfer ist die russische Verfolgung nationaler Interessen weder expansionistisch noch neoimperial, sondern pragmatisch und realistisch. Das Ergebnis, die eingeschränkte Souveränität der zentralasiatischen Klientelregimes zumeist ehemaliger KP Sekretäre, die russische strategische und Profitinteressen in wachsendem Maße zu berücksichtigen habe, ist jedoch das gleiche. Auch wenn man viele seiner russo- und sinophilen Thesen nicht teilt, so sei zugestanden, daß Magister Schäfer zu einem spannenden, bislang wenig publizierten Thema sehr ordentlich recherchiert hat. Ohne die mechanischen Zwänge der Prüfungskommissionen im Hochschulbetrieb wäre sicher auch ein besser lesbares Buch herausgekommen. Martin Christian Schäfer: Rußlands Außenpolitik gegenüber Zentralasien. Lit Verlag, Berlin 2007, broschiert, 124 Seiten, 19,90 Euro Dr. Albrecht Rothacher war bis 2006 Direktor an der Asien-Europa-Stiftung (Asef) in Singapur. 2007 erschien sein letztes Buch „Mythos Asien? Licht- und Schattenseiten einer Region im Aufbruch“ (Olzog Verlag, München) Foto: Rußlands Präsident Wladimir Putin besucht den turkmenischen Amtskollegen Gurbanguli Berdymukhamedov, Aschgabat 2007: Einflußsphäre im postsowjetischen Raum