Bücher über die sogenannte 68er-Bewegung gibt es viele, aber daß jetzt auch Kai Diekmann (43), Chefredakteur der Bild-Zeitung, mit einem solchen herausrückt, verdient doch einen Moment lang Aufmerksamkeit. „Der große Selbstbetrug“ heißt das Opus, im Untertitel: „Wie wir um unsere Zukunft gebracht werden“. Was will uns der Autor damit sagen? Spricht er als privater Schriftsteller und Zeithistoriker oder gewissermaßen ex officio, also als Funktionär seiner Zeitung oder gar des gesamten Springer-Verlags, zu dem Bild gehört? Werden hier irgendwelche neuen Leitlinien verkündet? Und wenn ja, welche?
Bei der Lektüre fällt schnell ein geradezu schreiender Widerspruch auf: der zwischen Erzählung und Analyse. Bei der Beschreibung von Sachverhalten sind Diekmann oder seine Ghostwriter streckenweise gar nicht schlecht. Sie nennen die Dinge beim Namen, beschönigen nichts, widerlegen eingeschliffene Lügen, die mittlerweile in der „gehobenen“ Publizistik zum guten Ton gehören, und befleißigen sich dort, wo es angebracht ist, eines ätzenden Sarkasmus, der erheitert und dem man voll zustimmen kann.
Der Leser bekommt ein eindrückliches Bild von dem, was damals passierte, zunächst an den Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, später auch in den Medien und in der Politik, bei Straßendemos, Go-ins, Sit-ins. Groß herausgestellt wird die ja in der Tat monströse Zauseligkeit, Unappetlichkeit und moralische Verkommenheit im Privatleben der 68er. Unterbelichtet bleibt der der Bewegung von Anfang an innewohnende Terrorismus, das Brandsätzeschmeißen, das Häuserbesetzen, die schmähliche, sadistisch ins Werk gesetzte Demütigung von hilflosen Lehrern und Dozenten.
Diekmann & Co. glauben, die 68er seien Idealisten gewesen, die sich selbst betrogen hätten. Was für ein Kitsch! Was für ein Kinderglaube!
Das leitet dann schon zu der großen Schwäche dieses Buches über, die ein Ärgernis ist und jegliche Anschaulichkeit paralysiert. Diekmann & Co. sind völlig unfähig, die Vorgänge exakt zu beurteilen und historisch einzuordnen. Für sie ist die 68-Bewegung nichts als ein Ausdruck der „deutschen Misere“, der angeblich „typisch deutschen“ Neigung, sich wichtig zu machen, den Oberlehrer und Gutmenschen zu spielen und dadurch unternehmungslustigen Neo-Liberalen den Alltag zu vergällen. „Früher hatten wir die Nazis“, so der Tenor des „Großen Selbstbetrugs“, „heute haben wir die Gutmenschen, zu denen sich die 68er gemausert haben.“
Weshalb „Großer Selbstbetrug“? Nun, Diekmann & Co. glauben allen Ernstes, die 68er seien am Beginn alle herzige Idealisten und Tagträumer gewesen, die später gleichsam wider Willen in ihre heutigen wichtigen Ämter und Schaltstellen rutschten, sie hätten sich mithin „selbst betrogen“. Was für ein Kitsch! Was für ein Kinderglaube! Als hätte nicht schon Rudi Dutschke selig die Parole vom „Marsch durch die Institutionen“ gepredigt. Als hätten sich nicht sämtliche höheren 68er ganz bewußt und planvoll mit den zynischsten und grausamsten Kräften des Machterwerbs um jeden Preis verbündet, mit Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, mit dem Mauer- und Stasi-Regime in Ost-Berlin.
Von Marx stammt die höhnische, freilich nicht auf seine eigene Truppe, sondern auf die Revolutionäre von 1789, die „Käsehändler“, bezogene Rede von den „heroischen Illusionen“. Man verkündet, man wolle „die Welt befreien“, aber in Wirklichkeit und bei Lichte betrachtet geht es nur darum, seinem Käseladen ein weiteres Schaufenster hinzufügen zu können. Die 68er waren nicht einmal revolutionäre Käsehändler. Sie wollten nichts aufbauen, nicht einmal einen Käseladen, sondern sie wollten immer nur abräumen, kaputtmachen, Knochen brechen. „Brecht dem Schütz die Gräten! / Alle macht den Räten!“
Diekmann weist unermüdlich darauf hin, daß die 68er einen „Epochenbruch“ bewirkt hätten, und zwar einen ins Negative. Doch warum es ein Epochenbruch war, das muß ihm Hekuba bleiben, weil er einen ganz eingeschränkten, exklusiv nationalpolitischen Tunnelblick auf die Ereignisse hat. Die 68er-Bewegung, auch „Studentenrevolte“, „Große Kulturrevolution“, „Blumenkinderaufstand“ oder „action directe“ usw. genannt, war aber eine genuin internationale Bewegung, und ihr Ziel war in allen Ländern, wo sie stattfand, die Zerschlagung teils bürgerlicher, teils uralter kultureller Traditionen, das Wegräumen kultureller Übereinkünfte zugunsten von massenzivilisatorischen „Errungenschaften“. Natürlich war das ein Epochenbruch.
Ziel der 68er-Bewegung war die Zerschlagung teils bürgerlicher, teils uralter kultureller Traditionen. Natürlich war das ein Epochenumbruch.
Anti-Vietnam, Vergangenheitsbewältigung, Kampf gegen Notstandsgesetze und „Faschismus“ – alle diese Ideologeme dienten nur als Vorwand und Windmacher, um den Furor der Zerschlagung und der Entsublimierung in Gang zu bringen und in Bewegung zu halten. In Wirklichkeit ging es einzig darum, an die Futterkrippen zu kommen und es sich dort bequem zu machen. Man wollte (um ein Wort von Karl Kraus gegen Heinrich Heine zu bemühen) endlich die Schlipse lockern, wollte sich breitfläzen und folgenlos „ficken“ und beides auch noch als die eigentliche Kultur, den tiefsten Sinn menschlichen Daseins, feiern.
Das Ausblenden jenes wahrhaften Epochenbruchs bei der Diskussion über die 68er-Bewegung, deren Reduzierung auf ein „typisch deutsches“, im Grunde krypto-nazistisches Regionalereignis ist das wahre Anliegen von Kai Diekmanns Buch. Entlarvend das Schlußkapitel. Ja, tönt er da, die Herrschaft der 68er sei schon ein schlimmes Kreuz, produziere Faulheit, Egozentrik, Mittelmaß, Multikulti und Gutmenschentum am laufenden Band. Aber sie habe doch auch ihr Gutes, sie „öffnete das Private“ für die Öffentlichkeit, ermunterte zu „Bekenntnissen von Intimitäten“ und führte zur „Boulevardisierung der Politik“. Das sei ein wahrer Segen (für die Bild-Zeitung, versteht sich).
Letztlich ist Diekmanns Buch viel weniger aggressiv, als es sich gibt. Die attackierten 68er und Gutmenschen, so wird dem aufmerksamen Leser augenzwinkernd nahegelegt, brauchten nur ein bißchen mehr neo-liberal und ein bißchen weniger anti-amerikanisch zu sein, und alle Sünden würden vergeben. Kein Alt-68er müsse Angst um seine Pension haben, denn auch die nachrückende Generation der Vierzigjährigen, die Diekmann-Generation, sei im Grunde eine 68er-Generation, nämlich voll boulevardisiert, frei von Intimitäten und jederzeit bereit zur Offenlegung des Privaten.
Symbol dafür ist die – von Diekmann humorig apostrophierte – ausgehängte Klotür. In den Wohngemeinschaften (WGs) der 68er-Frühzeit wurden bekanntlich die Klotüren ausgehoben, damit alle Genossinnen und Genossen jederzeit voll über das sogenannte Intimleben der Mitgenossinnen und Mitgenossen einschließlich ihrer Babys und Kleinkinder im Bilde waren. So hatte es Genosse Wilhelm Reich einst gelehrt, und daran hatte man sich zu halten. Aber inzwischen muß man keine Türen mehr ausheben, um ins Bild zu kommen bzw. sich ins Bild zu setzen. Man hat ja Bild.