Gegen die Legende, erst „1968“ ließ „Vergangenheitsbewältigung“ zum Gesellschaftsspiel werden, ist darauf zu beharren, daß lange vorher eifrig „aufgearbeitet“ wurde. So hatte der Germanist Klaus Ziegler sich so intensiv mit der Geschichte seiner Disziplin im Dritten Reich beschäftigt, daß er 1965 schon gelangweilt Bilanz zog: Wenn man die Ideologie kenne, die in den meisten literaturhistorischen Arbeiten der NS-Zeit vorwalte, so brauche man „das betreffende Buch gar nicht zu lesen, sondern weiß vielmehr in solchem Fall schon von Anfang an, zu welchem ‚Ergebnis‘ die ‚Erforschung‘ des jeweiligen Gegenstandes führt“. So ist das nun einmal mit „Weltanschauungsliteratur“. Auffallend ist indes, daß sich dieser Befund nicht auf wissenschaftliche Produktionen der NS- oder SED-Ära begrenzen läßt. Auch viele unter „freiheitlich-demokratischen“ Bedingungen entstandene Bücher braucht man inzwischen „gar nicht zu lesen“, um deren Resultate zu kennen. Zumindest gilt das für jene, die sich mit der, „grundgesetzlich“ gesehen, eher „undemokratischen“ deutschen Geistesgeschichte vor 1949 beschäftigen. So auch für die Dissertation von Daniela Gretz, die sich auf „Die deutsche Bewegung“ fixiert. Dieser Topos stammt von Wilhelm Dilthey und wurde von dessen Schüler Herman Nohl nach 1918 nationalpädagogisch instrumentalisiert. Damit schlug Nohl eine Brücke zu Präzeptoren „schöpferischer Restauration“ wie Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt, die auf der Suche nach verbindlichen Werten ebenfalls den Blick zurück auf die „Heldenzeit“ „deutschbewegten“ Geistes zwischen 1770 und 1830 warfen. Obwohl Gretz in diesem Kontext gewöhnlich unberücksichtigt bleibende Germanisten wie Heinz Kindermann, Paul Kluckhohn und Hermann August Korff einbezieht, bleibt ihre Durchleuchtung „deutscher Ideologie“ doch überraschungsfrei und mündet konsequent-konform in die Warnung vor einem erneuten Rekurs auf die „Kulturnation“, selbst wenn er von einem Unverdächtigen wie Bundespräsident Horst Köhler angeregt werde. Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung. Der Mythos der ästhetischen Erfindung der Nation. Wilhelm Fink Verlag, München 2007, broschiert, 350 Seiten, 39,90 Euro