Ein alter Streit ist neu entbrannt, der Streit um die „Ehrlichkeit“ architektonischer Fassaden. Die einen sagen: Neue Fassaden müssen das Innere und das Dahinter der zugehörigen Gebäude abspiegeln, ihre Funktion und Zeitgenossenschaft. Allein dies sei die wahre, die „ehrliche“ Einstellung.
Die anderen sagen: Gebäudefassaden sind nicht dem Inneren, sondern dem Außen verpflichtet. Sie dienen der Freude und dem Repräsentationsbedürfnis aller Stadtbürger, nicht nur denen der jeweiligen Hausherren. Und deshalb müssen sie manchmal auch „lügen“, das eventuell unschöne Dahinter und die Banalität der Funktion verschleiern.
Lange hatten die „Ehrlichkeits“-Fanatiker die Oberhand, doch jetzt scheint sich das Blatt zu wenden. In Dresden freuen sich faktisch sämtliche Bürger darüber, daß das Neumarktviertel rund um die neu-alte Frauenkirche „historisch getreu“ wiederaufgebaut wird, also mit den alten Barockfassaden, einerlei was sich hinter ihnen an modernem Leben und moderner Technik verbergen mag.
In Potsdam hat der Mäzen Hasso Plattner zwanzig Millionen Euro für den Wiederaufbau des zentralen Knobelsdorffschlosses gespendet, in das der Landtag einziehen will – unter der ausdrücklichen Bedingung, daß die Rokoko-Fassaden von 1750 voll wiedererstehen müssen. Der Beifall für Plattner ist allgemein und enthusiastisch.
Irgendwann wurde es ja auch Zeit für solcherlei Beifall und Enthusiasmus. Sie sind hoffentlich Ausdruck einer echten und dauerhaften Wende in der öffentlichen wie der privaten Architekturpolitik. Der Ehrlichkeitswahn, wonach eine eigenständige Fassadenkultur angeblich völlig überflüssig, ja sogar schädlich sei und entweder abgeschafft oder in Restbeständen total der Funktionalität untergeordnet werden müsse, hat das Bild unserer Städte böser verheert als die Zerstörungen des Krieges und der billige Nachkriegs-Bauboom zusammengenommen.
Berüchtigte Bauhaus-Parole
„Ornament ist Verbrechen“ – die berüchtigte Parole des Bauhaus-Architekten Adolf Loos am Beginn des „modernen“, rein funktionalen Bauens war selber ein Verbrechen und schlimmer als das: eine Dummheit, zeugend von kompletter Ignoranz gegenüber den strukturellen und historischen Bedingungen des eigenen Fachs.
Denn zur Architektur, die ihren Namen verdient, gehörte immer und von Anfang an zweierlei: der praktische Sinn und der ästhetische Sinn, das Notwendige und das frei Hinzugefügte („das Überflüssige“), die Wand und das Ornament bzw. die Fassade.
Fassade heißt Angesicht (lateinisch facies), sie ist das, was man der Öffentlichkeit, den Stammesgenossen oder Mitbürgern zuwendet; aus solcher Zuwendung ergeben sich Notwendigkeiten, die nur teilweise und indirekt mit der Funktion des Bauwerks zu tun haben, vielmehr – ganz unabhängig von der inneren Funktion – ästhetische und repräsentative Kommunalinteressen bedienen. Das gilt selbst für „öffentliche“ Gebäude wie Tempel, Kirchen, Rathäuser, Theater oder Museen.
Den Bürger stolz machen
Natürlich gibt die Fassade einer (gut und sinnvoll gebauten) Kirche viel und Wichtiges von ihrem Inneren preis, doch mindestens ebenso wichtig, wahrscheinlich wichtiger ist auch hier das Sicheinlassen auf die ästhetischen und repräsentativen Bedürfnisse der Polis.
Auch und gerade die Fassaden öffentlicher Gebäude sind primär nach außen gewendet. Sie wollen den Bürger nicht – nach welcher Richtung auch immer – funktionalisieren, sondern ihn in freie Gemeinschaft einbinden, ihn stolz machen und in schöner Umgebung ankommen lassen.
Wie für die funktionale Strukturkunst (Statik, Raumkunde, Wärme- und Lärmdämmung usw.) gibt es seit Urzeiten, spätestens aber seit der Antike auch für die Fassadenkunst ein letztlich unveränderliches, begrenzt-überschaubares Formen- und Methodenarsenal, einen klassischen Kanon gewissermaßen.
Risalite gehören dazu, also Mauervor- und Rücksprünge, Lisetten (Steinschnitte), Rustika-Sockel, Säulen bzw. Halbsäulen (sogenannte Pilaster), Supraporten über Türen und Toren mit Reliefs oder auch Vollplastiken, Karyatiden, Giganten, Mosaiken, „Lüftlmalerei“.
Kultur der historischen Kontinuität
Die wechselnden Stilepochen bis hin zum Jugendstil haben dieses Arsenal (sieht man von den Strebepfeilern, Fialen und Kreuzblumen der gotischen Kathedralen ab) nicht erweitert, immer nur variiert, neu geordnet oder neu zusammengesetzt. Fassadenkunst war Kultur der historischen Kontinuität, ihr Fortschreiten ein Kreisen in Kreisen.
Neue Epochen knüpften regelmäßig an vorhergehende an, indem sie gleichzeitig aktuell grassierende Abweichungen vom Kanon kritisierten und verdammten, auch wenn diese nur scheinbare waren, das vorgegebene Arsenal lediglich ausschöpften.
Gotik, Barock, Rokoko, Historismus – alle diese Bestimmungen waren ursprünglich Schimpfwörter, mit denen aktuelle Moden verächtlich und lächerlich gemacht werden sollten. Im Fokus der Kritik stand dabei stets die Fülle, die Üppigkeit der Einfälle und neuartigen Verbindungen, von denen man fürchtete, daß sie den Kanon überwuchern und unsichtbar machen würden, zum Schaden der Polis und ihrer Ansehnlichkeit.
Funktionalistischer Ehrlichkeitswahn der Moderne
Die Fülle galt als barbarisch, als „gotisch“ („maniera gotica“, spottete Vasari), oder sie wurde – wie im Falle des Historismus – als neureiche Anmaßung gebrandmarkt, die den Gesamtstil der Polis frech ignorierte.
Der funktionalistische Ehrlichkeitswahn der Moderne hat eine grundsätzlich neue, in jeder Hinsicht katastrophale Situation geschaffen. Sein Problem war nicht die Fülle, sondern die Leere. Er hat das klassische Fassaden-Arsenal einfach abgeschafft, ohne etwas Vergleichbares an seine Stelle zu setzen.
Übrig blieb nichts als eintönig glatte Fläche aus „modernen“ Baustoffen (Beton, Glas), dazu trostloseste Rastergliederung, endlose Fenster- oder auch bloße Lochreihen („Lochfassade“), ein Ausdruck des vollendeten Stumpfsinns und ein mörderischer Anschlag auf jedes ästhetische Gefühl.
Elementarsten Voraussetzungen bürgerlichen Zusammenlebens
Wenn jetzt die Bürger gegen diesen mörderischen Stumpfsinn aufbegehren und in Dresden „ihre“ Barockfassaden, in Potsdam „ihre“ Rokokofassaden zurückfordern, so ist das in jeder Hinsicht zu begrüßen. Nicht zufällige historische Reminiszenzen werden da in erster Linie eingeklagt, sondern die elementarsten Voraussetzungen bürgerlichen und überhaupt menschlichen Zusammenlebens, zu denen eben nicht nur Funktionsregeln und Sicherheitsanweisungen gehören, sondern auch und nicht zuletzt ästhetischer Sinn und die Überhöhung des gemeinsamen Alltags durch ornamentale Gesten und dekorative Perspektiven.
Die Architektur sollte die Botschaft ohne Ranküne aufnehmen und den klassischen Fassadenkanon endlich voll wiedererinnern und in gebaute Wirklichkeit umsetzen. Die Zeichen der Zeit weisen eindeutig auf gründliche Neuorientierung, Eine echte Renaissance steht wieder einmal an, nur geht es diesmal nicht gegen ornamentale Fülle, nicht gegen gotische „Barbarei“ oder barockes „Schiefrundes“, sondern gegen die ruchlose Leere der funktionalistischen Moderne. Ornament ist kein Verbrechen, sondern eine Wohltat.