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Wüte keiner gegen den Bürger!

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Besuchern, die staunten ob der Interessenfülle und Universalität seiner Kenntnisse, antwortete der alte Ernst Jünger gern mit der Metapher vom „Palast“. Trage man sein Leben lang täglich einen Ziegel herbei, studiere und meditiere man also kontinuierlich, könne man schließlich einen Palast bewohnen. Die konstruktive Arbeit des Geistes im Architekturbild kehrt wieder 1981, in Jüngers Dank für den Preis der Humboldt-Gesellschaft, diesmal jedoch Gleichnis des kulturellen Erbes als einer objektiven Größe: Die moderne Welt droht allenthalben auseinanderzufallen. Deshalb danken wir den Genies ihren Elan zur Synthese. Gewaltige Beiträge lieferten die Brüder Humboldt und Goethe, die mit ihrer „kosmischen Schau“ den Bau Europas bereichert haben. Jünger freilich bewegte sich nicht bloß spielend in diesen „Sälen“, sondern logierte auch gern in den ihm werten „Seitenkapellen“. Als eine solche erwähnt er hier ausdrücklich Jacob Burckhardt. Folgt man den Spuren Burckhardts in Jüngers Leben und Denken, ergibt sich eine Linie – direkte Zeichen und ferne Wirkung – aus den 1930er Jahren bis ins hohe Alter. Doch nicht beiläufig bleibt das Geistergespräch über ästhetische und politische Fragen. Deutlich markiert die Gestalt des Weisen Jüngers Abkehr von seiner politischen Periode, die Neuorientierung: vom unbekannten Soldaten, dann dem „Arbeiter“, hin zum „Waldgänger“ und Anarchen als der ihm nun gemäßen mythischen Figur. Burckhardt chiffriert hier gleichermaßen den individualistischen Identitätswandel wie auch den universalen Impuls des Geistes, den Jünger in den folgenden Jahrzehnten seines biblischen Daseins aufgreifend ein Gutteil erfüllt hat. Ein Bezug zum geistigen Basel durch die innere Emigration Jacob Burckhardt (1818-1897) kann uns im Rückblick heute als Summe alteuropäischer Existenz gelten. Der Schweizer aus Basler Patrizier- und Pastorengeschlecht studierte bei Droysen, Kugler, Boeckh, vor allem aber bei Ranke, habilitierte sich 1843 in seiner Heimatstadt, wo er zunächst journalistisch und lehrend tätig wurde. Das literarische Debüt kam 1852 mit der „Zeit Konstantins des Gr.“, zwei Jahre darauf folgte der „Cicerone“, ein Handbuch der Kunstschätze Italiens, sein großer Erfolg, dessen klassische Haltung säkular wirkte. 1858 bezog er den geschichtlichen Lehrstuhl Basels, um seit 1883 auch Kunstgeschichte dort zu lehren. Trotz ehrenvoller Auslandsberufungen blieb er seiner ehrwürdigen Alma Mater treu, erschien ihm die alte Stadtrepublik doch als humanistische Enklave einer rasant modernisierten Umwelt. Die großen Tendenzen im Zeitalter der Massen – Politik, Meinungskampf, Verkehr und Kommerz – nahmen den Menschen in Arbeit, zerbröselten die altbürgerlichen Werte und Bildungsideale. Aus dieser Perspektive entwickelte Burckhardt seine universalhistorische Anschauung, zwischen den Polen von Politik und Kunst. Realistisch, ja kaltblütig analysierte er die Ereignisse, sah der Gegenwart ins Auge und belauerte die demokratische Pandorenbüchse, die Europa die permanente Revolution bescherte. Seine Stellung, teils behaglich, teils asketisch, stets diskret, ließ ihn zum Zeitkritiker werden, zum hellsichtigen Propheten gar, was freilich erst die Nachwelt faßte durch die postum edierten Briefwechsel und legendären „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ (1905). Prominent zu Lebzeiten wurde indes seine „Kultur der Renaissance in Italien“ (1860): als großes Modell integraler Kulturgeschichte, alternativ zur Polit-historie. Burckhardt lebte – sieht man vom unentwegt Kunstreisenden ab – ganz seinen Studenten und der Baseler Bürgerschaft. Überzeugt vom Geist Europas und dem Wert der Tradition, verlieh er der Basler Uni gar metaphysischen Rang. Als heimlichem Platoniker galt ihm die ideale Sphäre von Kunst und Wissenschaft der Zeit entrückt. So lebte er, ein luzider Pessimist, „rückwärts gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeiten, vorwärts gewandt zu heiterer und unverdrossener Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoffe anheimfallen könnte“. Burckhardts kontemplative Existenz und exklusiver Individualismus konnten Ernst Jünger in den zwanziger Jahren kaum interessieren. Fronterlebnis, Weltanschauungskampf und kollektivistische Mythen im Zeichen des „faschistischen Stils“ führten von den Kriegsschriften zur technokratischen Utopie des „Arbeiters“ 1932 mit seinem bolschewistischen Fluch über die bürgerliche Welt. Einen Bezug zum geistigen Basel brachte erst die innere Emigration nach 1933 und eine Entwicklung, die zur kulturkritischen „Perfektion der Technik“ (1946) des Bruders Friedrich-Georg führt. Hatte der „Arbeiter“ verkündet, man müsse sich der totalen Mobilmachung unterwerfen oder untergehen, rehabilitiert nun Jünger in den „Strahlungen“ das Widerstandsmotiv: „Der Mensch als Techniker, als geistig-abstraktes Wesen ist notwendig der Feind und Ausbeuter des Natur- und Kulturmenschen. Der Mensch muß sich also gegen sich selbst sichern.“ Inmitten düsterer Reflexionen zum modernen Kannibalismus signalisiert Burckhardt unterm Stichwort „Schnellfäulnis“ die Gefahr rapiden moralischen Zerfalls. Dessen Wertschätzung als Diagnostiker der Moderne hält sich bei Jünger angesichts einer Gegenwart, die die schlimmsten Befürchtungen des Basler Unzeitgemäßen erfüllt – mal exklusiv notiert, mal in Kompanie mit den Unsterblichen, jenen „Auguren der Malstromtiefen, in die wir abgesunken sind“: Poe, Melville, Hölderlin, Tocqueville, Rimbaud, Conrad, Kierkegaard und Bloy. Nietzsche, ein Spezialfall, ist selbst Symptom der Krise. So findet Jüngers Entwicklung auch statt im Zeichen der vielschichtigen Spannung von Burckhardt und Nietzsche, ihrer Nähe wie Abstoßung. Das „Erste Pariser Tagebuch“ verwirft dessen brutalisierende Umdeutung Burckhardts zum zynischen Renaissance-Kult und revidiert so eigene Positionen, deren Nihilismus nicht zuletzt Nietzsche geschuldet war. Nachdenklich fragt Jünger, was es wohl sei, daß „reine Schau in Willen, in leidenschaftliche Aktion“ umschlage. Stoische Ethik und „brahmanische Lauterkeit“, die Schopenhauer Burckhardt vererbt hat, erscheinen nun als neue Regulative. Zum mythischen Umriß des neuen Weltbilds gesteigert, erscheint Burckhardt anonym im „geschichtsphilosophischen Credo Jüngers“ (Meyer), in der zweiten Fassung von „Das Abenteuerliche Herz“ (1938). Unterm Stichwort „Ergänzung“ schließt die „Historia in nuce“ sich dem deutschen Idealismus an. Konflikt und Polarisierung, politischer Aktionismus werden abgelöst durch die geistige Schau einer unendlichen Integration, des zum Ursprung strebenden Weltprozesses: die Wirklichkeit ein Wahrheitsgeschehen und wir seine Momente. Als Erkennende schreiten wir so, einem Spiralgang gleich, ins Weite. „Besonders schön tritt das in der Erscheinung des großen Historikers hervor: unsere Geschichte, die eine Geschichte der Parteiungen ist, wird durch ein göttliches Auge ergänzt. Architektonisch gesprochen zeichnet der Historiker in den babylonischen Plan unserer Anstrengungen die Bögen ein, deren Wahrnehmung sich den handelnden Mächten, die den tragenden Pfeilern gleichen, notwendig entzieht.“ Erlösende Kraft kommt also nicht vom Täter, vielmehr durch Dichter und Denker, die das zersprengte Leben transzendierend aufheben in seine geistige Gestalt. Dieser „dynamische Platonismus“, der die Phänomene als Zeichen einer höheren Einheit nimmt, erhellt im Widerstreit der Welt die innere Harmonie. Hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen stehen zeitlose Figuren, ein „kosmischer Bestand an Ewigkeiten“. Jüngers Relationen zu Burckhardt gründen sich auf vier Seiten von dessen Produktivität: die Kenntnis der „Renaissancekultur“, der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, der griechischen Kulturgeschichte und der Briefe. Neben der philosophisch-humanistischen Grundhaltung bleibt Burckhardt wichtig: als Zeitdiagnostiker, als bewußter Europäer, als Kunstkritiker. Burckhardts europäische Identität schließt hart ab gegen den Orient, ästhetisch und politisch. Beide Momente motivieren seine Geringschätzung der Türkei und des Islam überhaupt, die Jünger vielfach beschäftigten. Ästhetisch ist Jünger beim klassizistischen Vorurteil nicht stehengeblieben. Er ist Burckhardts Entwicklung auch auf den diskreten Pfaden der privaten Äußerung gefolgt und hat dessen Altersenthusiasmus für den Barock adaptiert. Stil als dynamische Ausdruckssprache erscheint hier als Analogon eigener Naturbeobachtung; Natürliches und Künstliches vernetzt sich in kosmologischer Schau („Siebzig verweht II“, 13. Mai 1977). So erwies sich, je länger je mehr, Burckhardt als Mann für wechselnde Lebenslagen, ja für alle Zeit – wie ein Ariadnefaden der Freiheit durch Monotonie und Bedrängnis. Im Gegensatz zum herumwildernden Outcast Nietzsche hat Burckhardt in Basel beharrlich als Pädagoge amtiert und seine humanistische Freiheit diskret gewahrt. Wie seine Existenzformel lauten daher die Worte Laotses, auf die Jünger 1988 stieß: „Der vollkommene Mensch paßt sich dem Gehabe der Gesellschaft an, ohne sein Selbst zu verlieren.“ – „Also ein Anarch“, notierte der Meister aus Wilflingen unter dem 21. Januar 1988 in „Siebzig verweht IV“. Die Idee der Tradition gefaßt, die der Übertradition geahnt „Wir müssen“, so heißt es in „Jahre der Okkupation“ am 1. Mai 1945, „den Weg, den Comte vorgezeichnet hat, zurückfinden, von der Wissenschaft über die Metaphysik zur Religion.“ So ist es. Jünger selbst hat ihn gebahnt. Burckhardt vermag diese Perspektive nicht voll auszuschöpfen, doch kann er ein Führer des Weges sein. Als Historiker con amore hat er nicht nur die Fakten traktiert, sondern Leben als Überlieferungsgeschehen erkannt. Das historische Bewußtsein wird so zur Instanz der Traditionsbildung, ja mehr noch: „Diese Kontinuität ist aber ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins und ein metaphysischer Beweis (…) seiner Dauer.“ Was für „ein wunderbares Schauspiel“ ist es also, „dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der über all diesen Erscheinungen schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung hätte, würde des Glückes und Unglückes völlig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben.“ Wüte keiner gegen den Bürger! Der Bürger Jacob Burckhardt hat zu Zeiten von Positivismus und Materialismus die Idee der Tradition gefaßt und die der Übertradition tief geahnt. Damit blieb er für uns gegenwärtig und wurde anschlußfähig für einen universalen Geist wie Ernst Jünger – jenseits des ephemeren Zwists zwischen Arbeitern und Bürgern. Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk – von den „Stahlgewittern“ bis zu „Siebzig verweht V“. Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also „Spuren-Lesen“. Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen. Wolfgang Saur studierte Germanistik, Philosophie, Neuere Geschichte und Soziologie in Marburg und Eichstätt. Derzeit absolviert er in Berlin ein Aufbaustudium Religionswissenschaft und Kunstgeschichte und ist als freier Autor tätig. Im Rahmen dieser JF-Serie erschienen bisher Beiträge von Alexander Pschera über Ernst Jünger und Hermann Löns (JF 05/05), Léon Bloy (JF 09/05), Franz Kafka (JF 14/05), Aldous Huxley (JF 18/05) und Otto Weininger (JF 28/05), von Harald Harzheim über Maurice Barrès (JF 23/05) und Marquis de Sade (JF 37/05) sowie ein Text von Alexander Michajlovskij über Dostojewski (33/05). Jacob Burckhardt (1818-1897): Pessimist und heimlicher Platoniker Foto: picture-alliance / dpa

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