Oh weh, jetzt rächt sich einer an sich selbst. Peter Sloterdijk hat einen aktuellen Essay auf den Markt geworfen ("Zeit und Zorn", Suhrkamp), in dem er die großen politischen Aggressionen des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart als Ausfluß eines kollektiven Zorns deutet und "den Westen" dazu aufruft, selber zornig zu werden, einen "heiligen, gerechten Zorn" in Stellung zu bringen, damit das Abendland gerettet werde. Was verspricht er sich davon?
Zorn ist ein durch und durch verzweifelter Affekt, der sich durch nichts veredeln läßt. Man mag sich ihm momentweise hingeben, aber um zu vernünftigen, verwertbaren Entschlüssen zu gelangen, muß man ihn so schnell wie möglich wieder ablegen, sonst gerät man ins Dikkicht und wirkt nur noch lächerlich. Das gilt vor allem in der Politik. Hier kann man den Zorn vor versammelter Öffentlichkeit (also in der Pose des Volksredners und zum Fenster hinaus) zwar hin und wieder spielen, doch falls man dabei selber zornig ist und bleibt, ist man schnell weg vom Fenster.
Einige Leser werden sich daran erinnern, daß Pankraz einmal über die zornigen Götter (beziehungsweise den zornigen GOTT) geschrieben hat und wie er damals viele gute Argumente gegen die Vorstellung eines "göttlichen Zorns" versammelte. Ein zorniger Gott geht immer horrend unter seine Möglichkeiten. Und das trifft natürlich noch viel mehr für die Menschen zu. "Der Zorn wirft nur blinde Junge", sagt das Sprichwort, und damit ist tatsächlich alles gesagt.
Pankraz fällt keine einzige seriöse Sentenz für den Zorn ein, und er findet auch keine in dem Buch von Sloterdijk. Statt dessen wimmelt es im Volksmund und in der Weltliteratur geradezu von Sprüchen gegen den Zorn, es wird unermüdlich vor ihm gewarnt, die Kinder in der Schule werden seit Olims Zeiten energisch ermahnt, Zornesanwandlungen nicht nachzugeben, sondern sich in Zucht und Haltung zu fassen. Zornesprediger werden – zu Recht – als üble Hetzer hingestellt und von sachlichen Debatten ferngehalten.
"Der Zorn ist eine kurze Raserei" (ira furor brevis est) – dieses mitleidige Urteil von Horaz in seinen Episteln ist noch das Mildeste, was über den Zorn gesagt wird. Ansonsten waltet überall Verachtung und schärfste Ablehnung. "Lasset nie die Sonne über eurem Zorn untergehen!" predigt die Bibel (Epheser 4,26). "Ach, der Zorn verdirbt die Besten", klagt Schiller in seinem Gedicht "Das Siegesfest". "Wer im Zorn handelt, geht im Sturm unter", konstatiert Montaigne. Und der fromme Angelus Silesius dichtet mit Bangigkeit: "Der Zorn ist höllisch Feuer. / Wenn er in dir erbrennt, / So wird dem Heilgen Geist / Sein Ruhbettlein geschänd’t".
Weshalb gibt es überhaupt den Zorn, wieso konnte er unter die Menschen kommen? Tiere und Pflanzen kennen ihn nicht. Wenn man einen Tiger reizt, indem man ihm etwa ohne Ankündigung zu nahe kommt, stößt er Warnlaute aus, faucht und schlägt mit der Tatze, aber er ist dabei nicht zornig, nicht einmal wütend. Er entscheidet lediglich nach seiner eigenen Façon, nach Maßgabe dessen, was er für notwendig hält. Affekt und Handlung sind eins.
Im Menschen hingegen mit seiner spontanen Selbstreflexion gibt es eine Reaktionshemmung, einen "Hiatus", es staut sich sozusagen etwas auf, und das ist dann der Zorn. Genauer: Zunächst staut sich Wut, blinder Wille zum Losschlagen auf; da aber diese Wut, dieser Wille, sich üblicherweise nicht sofort verwirklichen kann, da unser Verstand das Risiko möglicher negativer Folgen viel besser abschätzen kann als der Instinkt des Tigers und Warnblinker aussendet, wird die Wut zur Dauerbefindlichkeit. Die Wutpartikel verteilen sich über viele Zonen von Körper und Geist, es gibt Adrenalinstöße am laufenden Band: Zorn.
Zorn ist also ein Produkt unseres Verstandes, wenn auch ein Abfallprodukt. Wir wüten im Zorn gewissermaßen gegen uns selbst, gegen das, was uns zu denkenden Menschen macht. Der Verstand sendet uns Blinklichter, mahnt zur Vorsicht und dazu, die Sache genau zu bedenken, doch eben dies macht uns zornig. Statt gelassen unsere Maßnahmen zu ergreifen, brüllen und zappeln wir nun herum und bieten im schlimmsten Fall ein nachgerade abstoßendes Bild: verzerrte Fratze, geschwollene Stirnadern, ungesunde Röte. Hält der Zorn länger an, wird er zu einem schweren Risikofaktor für Physis und Psyche.
Kollektivzorn, wie ihn Sloterdijk zum Ausgangspunkt seiner Erörterungen nimmt, gibt es im Grunde nicht. Man kann Völker oder Glaubensgemeinschaften demütigen oder beleidigen, man kann Volksmassen aufhetzen und zu Wutausbrüchen verführen, aber zornig machen kann man sie kaum. Zorn ist ein Phänomen der Individualpsychologie, nicht der Völker- oder Massenpsychologie, welche für die von Sloterdijk anvisierten Erscheinungen viel passendere Vokabeln bereithält.
Was zur Zeit in einigen islamischen Ländern und Gemeinden passiert: die "Empörung", das Verbrennen von Papstpuppen, das Skandieren haßerfüllter Parolen, das Besetzen ausländischer Botschaften, die Jagd auf christliche Nonnen – es ist nichts weniger als "Volkszorn", es sind vielmehr die von Gustave Le Bon längst analysierten und heute voll eingeschliffenen Praktiken gewalttätiger Massenhysterie, hinter denen politisches Kalkül und kalte Absicht stehen.
Um den Aggressionen und planvollen Unterwanderungen gewaltbereiter Missionsbewegungen zu widerstehen, brauchen wir keinen "heiligen Zorn", auch keinen "gerechten Zorn", sondern kluges Besinnen auf die eigenen Traditionen und Freiheiten sowie den energischen Willen, diese Güter zu bewahren, sie für den modernen Gebrauch einsatzfähig und attraktiv zu halten und sie nötigenfalls mutig und mit strategischer Übersicht zu verteidigen.
Philosophen und Essayisten sind bei diesem Geschäft durchaus gefragt, sie sollten aber nicht überflüssigerweise zornig werden. Denn "zornig sein", sagt der kluge, hier sehr zuständige Alexander Pope, "das heißt, die Fehler anderer an uns selbst zu rächen".