Am 11. März 2006 verstarb der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Gerard Radnitzky, wenige Tage bevor sein letztes, memoirenartiges Werk erschien: „Das verdammte 20. Jahrhundert“. Drei grundsätzliche Aspekte verleihen dem Buch einen einzigartigen Rang: Zum einen handelt es sich beim Autor um einen Gelehrten, der – in den Worten von Wolfgang Kasper – „hauptberuflich immer Freiheitskämpfer war, und nebenberuflich eminenter Wissenschaftler“. Sein Lebensmotto deckte sich mit einem Buchtitel seines Freundes, des Sozialphilosophen Anthony de Jasay: „Against Politics!“ – Gegen (jede) Politik. Zum anderen verbindet Radnitzky die eigene aufregende Biographie (er war Jagdflieger und Kampfpilot im Zweiten Weltkrieg), seine „Mikrogeschichte“, mit der großen und meist schrecklichen Makrogeschichte des 20. Jahrhunderts als dem eigentlichen Hauptthema. Er betreibt – in seinen eigenen Worten – „Irrtumsbeseitigung als Sport“ und „aus Spaß an der Wahrheit“, denn: „Wer schweigt, scheint zuzustimmen.“ Seine Ambition: „Ich hoffe, Fragenden, die man in der BRD als geschichtslose Generation erzogen hat und denen man derzeit ständig ein falsches Geschichtsbild suggeriert (…), zu helfen, ihr Geschichtsbild zu korrigieren.“ Radnitzky will seine Leser von der Amnesie befreien, die ihnen alltäglich von den politisch Mächtigen und den öffentlich-rechtlichen Medien verordnet wird. Vor allem die Jüngeren sollen „für die Verdrängung und Verfälschung der geschichtlichen Wahrheit ein Gespür bekommen“. Zum dritten verbindet Radnitzky die geistige Präzision des Logikers mit dem Mut des kompromißlosen Streiters gegen die „militante Zivilreligion“ der allgegenwärtigen politischen Korrektheit. Mit dieser „Geschichtstheologie“ aus dem ideologischen Fundus der politischen Religionen werde die Säkularisierung quasi rückgängig gemacht. Die deutsche Geschichte politisch korrekt zu lehren, bedeutet: Eine Aussage über die Vergangenheit ist wahr oderfalsch genau dann, wenn der erwartete Effekt volkspädagogisch erwünscht oder eben unerwünscht ist. Ob die Aussage eine zutreffende Darstellung ist, spielt keine Rolle. Als Spieltheoretiker erkennt Radnitzky, daß es sich beim politisch korrekten Meinungsmonopol um ein hochmoralisch verbrämtes Machtinstrument handelt, um „kognitives Kapital“, das die Besitzer, die herr-schenden Politik- und Medien-Intellektuellen, vor Entwertung schützen wollen. Dazu ist jedes Mittel recht, auch die Vernichtung von Ruf und Existenz eventueller Abweichler. Die Folge ist der Verlust jeglichen Respekts vor der Wahrheit im betroffenen Land. Und mit der Wahrheit schwindet auch die Freiheit. Als Beispiel dafür, wie wir mit einem Teppich aus Geschichtslügen überzogen werden, führt Radnitzky die Figur Ilja Ehrenburg an. Eine große öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Deutschlands feierte ihn im Februar 2000 als einen „großen Humanisten“. Dabei handelte es sich um jenen Ilja Ehrenburg, der nicht zuletzt noch im Mai 1945 im Prager Sender die tschechischen Partisanen unablässig aufhetzte: „Tötet den Deutschen, wo ihr ihn findet. Macht keinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten. Tötet Frauen und Kinder. Rottet alle aus.“ An die Stelle der „konventionellen Fabel“, daß Hitler allein für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich sei, setzt Radnitzky die „ganze Wahrheit“: „Die Völker, Franzosen, Briten, Deutsche usf. wollten keinen Krieg. Einige Politiker dieser Völker wollten ihn, besonders französische und polnische. (…) Aber wichtiger, weil folgenreicher, mächtiger, waren die angloamerikanischen und die russischen Politiker. Für Churchill war der Krieg sein Lebenselixier, und dazu kam sein pathologischer Deutschenhaß (…). Ohne die Garantie an Polen vom 31. März 1939 wäre es nicht zum Krieg gekommen. Daß diese zustande kam, ist Churchills Werk – sie war eine der notwendigen Bedingungen für den Krieg. Stalin wollte einen Krieg, um Lenins Plan zu realisieren. Wenn er nicht durch den Nichtangriffspakt Hitler die Angst vor einem Zweifrontenkrieg genommen (…) hätte, dann hätte Hitler es niemals gewagt, gegen Polen loszuschlagen. Der Pakt war die zweite notwendige Bedingung für den Krieg. Roosevelt sah in einem Krieg die einzige Chance, aus dem aktuellen wirtschaftlichen Schlamassel herauszukommen und etwas vom sozialistischen ‚New Deal‘ zu retten. Auf das Phänomen des ‚war-sprung socialism‘ (sprunghaftes Hochschnellen des Sozialismus in Kriegszeiten) konnten alle Sozialisten vertrauen. Der Krieg ist der größte Feind von Markt und Freiheit; er ermöglicht es der Regierung, die Kontrolle über die Wirtschaft zu bekommen und ihre Macht auszuweiten. Der Staat wächst…: die Staatsquote, die Abgabenquote, die Bürokratisierung usf. Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt über die Teilung Polens war Roosevelt bekannt, aber er hütete sich, den Polen davon eine Mitteilung zu machen, denn dann wären sie auf Hitlers moderate Vorschläge eingegangen, und es wäre nicht zum Krieg gekommen. (…) Die beiden konspirierten von Anfang an, um einen Krieg zu entfachen. (…) Hitler tappte in Stalins Falle und damit in den Krieg“. Aus diesen und zahlreichen anderen Gründen spricht Radnitzky von Stalin, Hitler, Roosevelt und Churchill als den „vier Großverbrechern“. Zu solch vernichtendem Urteil gehört auch die Tatsache, daß das Morden nach der Kapitulation erst richtig los ging: 15 Millionen vertrieben, 17 Millionen im sowjetischen Bereich versklavt, mehrere Millionen im Zusammenhang mit der Vertreibung ermordet. Kurz: Dieses Buch ist eine schmerzliche Heilkur gegen politisch korrekte Geschichtsklitterung. Gerard Radnitzky: Das verdammte 20. Jahrhundert. Erinnerungen und Reflexionen eines politisch Unkorrekten. Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York, 2006, 353 Seiten, gebunden, 19,80 Euro Foto: Radnitzky (links) mit Karl Popper: Hauptberuflich Freiheitskämpfer, nebenberuflich Wissenschaftler