Wir schreiben das Jahr 1963, Ort der Handlung ist die Evangelische Akademie Tutzing, Hauptdarsteller der Leiter des Presse- und Informationsamtes des Berliner Senats, Egon Bahr. Am 15. Juli besagten Jahres hält der SPD-Politiker eine später vielzitierte Rede, in der er jene deutschlandpolitischen Positionen skizziert, die nach dem Regierungswechsel 1969 als „Neue Ostpolitik“ Gestalt annehmen; eine Politik, „die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung“, so Bahr 1963. An der Seite Willy Brandts gehörte Bahr in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zunächst im Kanzleramt, dann als Bundesminister selber zu den treibenden Kräften dieser „Neuen Ostpolitik“ – gegen den parlamentarischen Widerstand der oppositionellen CDU/CSU und gegen die meinungsstarke Presse des einflußreichsten Verlegers in Deutschland: Axel Cäsar Springer. Nachdem Brandt in einem Interview im Dezember 1969 erklärt hatte, er habe aufgehört, über die Wiedervereinigung zu sprechen, schrieb Springer an Bahr einen wütenden Brief, der mit dem Satz endete: „Ich habe begriffen.“ Fortan war das Tischtuch zerschnitten. Der Politikwissenschaftler Jens Hacker hat in seinem Buch „Deutsche Irrtümer“ über die Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen 1992 daran erinnert, daß es vor allem die Springer-Presse mit ihrem damaligem Flaggschiff Die Welt war, die sich dem herrschenden Zeitgeist widersetzte, das Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands preiszugeben. Tatsächlich stellten zuvorderst Springer-Journalisten wie Herbert Kremp oder Matthias Walden in Leitartikeln und Kommentaren Bahrs Auffassung in Frage, in den Beziehungen zur DDR ginge es darum, den Status quo anzuerkennen, um ihn zu überwinden. Springer hätte es verdient, die Einheit zu erleben Axel Springer selbst sollte die Wiedervereinigung, an die er so fest glaubte und für die er sich prinzipienstark engagierte, nicht mehr erleben; er starb 1985 im Alter von 73 Jahren. In dem aus Anlaß seines zwanzigsten Todestages unlängst erschienenen Sammelband „Axel Springer – Neue Blicke auf den Verleger“ schreibt der heute 83jährige Egon Bahr, der „verläßliche und schwierige Patriot“ Springer habe in seiner Haltung den harten Kurs gegen die Ostpolitik verbunden mit der „seltener werdenden Leidenschaft“, den Glauben und Willen zur deutschen Einheit nicht aufzugeben. „Ich bedauere“, so Bahr, „daß Axel Springer die Einheit nicht mehr erlebt hat. Er hätte es verdient.“ Bahrs Autorenbeitrag – einer von zwanzig – zählt noch zu den besseren dieses Sammelbandes. Herausgeber des Buches ist der derzeitige Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner, der sich nicht scheute, neben Freunden und Weggefährten auch ausgewiesene Widersacher Springers um sich zu scharen, beispielsweise den früheren Stern-Chef Michael Jürgs. Das Ergebnis ist entsprechend ausgefallen. Äußerst seltsam kommt zum Beispiel Frank Schirrmacher daher. Springer habe eine geradezu „sozialrevolutionäre Funktion“ für die Deutschen übernommen und den „notwendigen Typus des Gegen-Intellektuellen“ verkörpert. Großzügig und überheblich will der FAZ-Mitherausgeber anerkennen, welchen Teil der deutschen Öffentlichkeit Springer erreichte „und demokratiefähig machte“. Schirrmacher: „Die Masse, die er vor allem mit der Bild-Zeitung ansprach, hatte, als sie historisch das letzte Mal redete, mörderisch, kriminell, schlicht böse geredet.“ Axel Springer erst, darauf läuft Schirrmachers Rede hinaus, habe diese für „Enthumanisierungstendenzen“ empfängliche Masse gewissermaßen zivilisiert. Bild-Leser als amorphe, homogene Masse und Wegbereiter Hitlers – man kann nur mit dem Kopf schütteln und staunen, was Chef-Feuilletonisten heutzutage alles zu Papier bringen. Döpfner vergleicht Anschläge mit Schlagzeilen Allerdings – die Befremdlichkeiten beginnen ja bereits mit der Einleitung („Statt eines Vorworts“) des Springer-Chefs Mathias Döpfner. Standen Axel Springer und sein Verlag 1967ff. im Visier eines gewalttätigen Mobs der Straße („Enteignet Springer!“, „Haut dem Springer auf die Finger“), entblödet sich Döpfner nicht zu schreiben, zur Tragik Springers habe es gehört, „bisweilen wie eine Kraft zu erscheinen, die stets das Gute will, und manchmal doch das Böse schafft“. Ausdrücklich nennt er die „Eskalation gegen die 68er Bewegung“. Kein Wort bei Döpfner von dem Sturm auf die Berliner Verlagszentrale Ostern 1968 aus Wut und „Vergeltung“ für das Attentat auf Rudi Dutschke, kein Wort zu den republikweiten Straßenkrawallen und Brandanschlägen auf Vertriebsfahrzeuge Springers, kein Wort zu den Verwüstungen der Münchner Bild-Redaktion, kein Wort auch zu den Bombenanschlägen und Brandstiftungen, von denen im Mai 1972 das Hamburger Verlagshaus mit mehr als ein Dutzend Verletzten, 1973 und 1975 Häuser Springers auf Sylt und in der Schweiz betroffen waren. Statt dessen weiß Döpfner: „Die Zuspitzungen während der Studenten-Revolte haben dem Verlag geschadet. Die Epigonen des Verlegers beschädigten das Haus durch Übereifer. Schlagzeilen glichen mehr Schlägen als Zeilen.“ Es ist ungeheuerlich: Mit Schlagzeilen zum Beispiel der Bild-Zeitung, und seien sie noch so dümmlich gewesen, rechtfertigt Döpfner terroristische Brandsätze gegen Springer, dessen Erbe er vorgibt angetreten zu haben. Nach solchem Aufgalopp nimmt es nicht wunder, daß auch andere Beiträger gewaltig neben der Spur liegen, etwa die frühere taz- und heutige Welt-Journalistin Mariam Lau, die sich an Hans Zehrer abarbeitet. Zehrer (Jahrgang 1899) kämpfte nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Spartakus-Revolutionäre und begann 1923 seine schillernde journalistische Karriere bei der zum Ullstein-Verlag gehörenden liberalen Vossischen Zeitung. Ab 1931 war er Chefredakteur der völkischen Monatszeitschrift Die Tat. Nach dem Krieg avancierte er zum Chefredakteur der Welt und einem der wichtigsten Weggefährten Axel Springers. Unter Zehrers Führung entwickelte sich die Welt ab 1953 zum konservativ-liberalen Aushängeschild des Springer-Konzerns; bis zu seinem Tod 1966 blieb er der geistige Kopf der Zeitung. Im Juni 1974 veröffentlichte die Welt ihm zu Ehren – Zehrer wäre 75 Jahre alt geworden – eine Sonderseite mit Auszügen aus Aufsätzen und Leitartikeln Zehrers. Dazu hieß es: „Wer sich in die Jahre Zehrers zurückliest, wird feststellen, wie unverwelkt, gerade wegen dieser Kraft der Vorausschau und Weitsicht, die Hauptlinien des Zehrerschen Denkens und Schreiben geblieben sind.“ Axel Springer höchstselbst formulierte in einem Gedenkbeitrag, Zehrer habe es vermocht, „die verwirrendsten Geschehnisse aus der Niederung der Tagespolitik herauszuheben und in größere Zusammenhänge einzubauen“. Seine Leitartikel und Glossen seien für eine „immer größer werdende Lesergemeinschaft zugleich Worte des Aufklärens und des Deutens, des Aufrüttelns und des Trostes“ gewesen. Springer: „Hans Zehrer war ein deutscher Patriot, wie sie immer seltener werden.“ Henryk M. Broder: „Sorry Axel, ich hab mich geirrt“ Es kann dahingestellt bleiben, ob die 1962 geborene Mariam Lau – ihr Vater gehörte noch zu jenen Leuten, die 1968 das Verlagsgebäude Springers stürmen wollten – mit dem engen Verhältnis zwischen Axel Springer und Hans Zehrer beim Abfassen ihres Beitrags für den Sammelband hinreichend vertraut war. Sie selbst räumt ein, daß sie Konservative „ja überhaupt erst seit ein paar Jahren in ihrem natürlichen Habitat aus der Nähe studieren kann“. Einigermaßen absonderlich, um das mindeste zu sagen, ist jedenfalls, daß sie über den Springer Verlag, von dem sie sich heute ihre Brötchen bezahlen läßt, schreibt: „Die dunkle Seite der Macht (…), wo Parteibindungen entscheiden, wo Ressentiments und Opportunismus gepflegt werden, wo man noch immer lieber nach Innen als nach Westen schaut, wo man der Israel-Loyalität und der Globalisierung ebenso skeptisch gegenübersteht wie seinerzeit Hans Zehrer – diese Seite gibt es natürlich auch.“ Aber, freut sich Frau Lau, „sie wird leiser, immer leiser“. Selbst frühere erklärte Anti-Springer-Aktivisten gehen da realitätstüchtiger mit ihrem einstigen Feindbild um. So schreibt Henryk M. Broder: „Springer hatte Prinzipien und er versuchte, sie durchzusetzen. Nicht immer sehr geschickt und oft auch mit mehr Druck als nötig. Deswegen denke ich jedesmal, wenn ich am Springer-Haus in der Kochstraße vorbeifahre: ‚Sorry Axel, ich hab mich geirrt, und du hast recht gehabt. Nicht immer. Aber immer dann, wenn es wirklich darauf ankam.'“ Ergänzt werden die insgesamt eher einen zwiespältigen Eindruck hinterlassenden Autorenbeiträge in diesem Sammelband durch einen 60 Seiten umfassenden Bildteil mit zum Teil bislang unveröffentlichten Fotos sowie einem guten Dutzend Dokumente Springers (Artikel, Reden, Interviews). Axel Springer – Neue Blicke auf den Verleger: Eine Edition aktueller Autorenbeiträge und eigener Texte, hrsg. von Mathias Döpfner. Axel Springer, Berlin 2005, kart., 256 Seiten, Abb., 19,80 Euro