Das Spektakulärste am Aufstieg des Günter Grass zum Großintellektuellen der Bundesrepublik ist dies: Er war nur möglich, weil seine ehemaligen Kameraden von der Waffen-SS all die Jahre eisern darüber geschwiegen haben, was sie aus der NS-Zeit von ihm wußten. Und das noch während der Bitburg-Affäre 1985, als er den Toten, deren Schicksal er nur durch Zufall entronnen war, aufs Grab spuckte. Der Zorn der Überlebenden seiner Einheit muß groß gewesen sein, trotzdem haben sie sich anders verhalten, als Grass es in bezug auf „die deutsche Vergangenheit“ und die „belasteten“ Deutschen für normal hielt: enthüllen, anprangern, verurteilen! Umgekehrt hat Grass sich für seine Person auf einen Ehrenkodex verlassen, den er öffentlich gar nicht scharf genug verdammen konnte. „Meine Ehre heißt Treue“, lautete der Spruch der Waffen-SS, und Grass hat sie reichlich in Anspruch genommen. Was auf der logischen Ebene ein unaufgelöster Widerspruch bleibt, ist auf der moralischen eine Unsauberkeit. Ersteres läßt den politischen Propagandisten als Würstchen dastehen, letzteres ruft Widerwillen hervor. Sicher, Treue gehört zu den „Sekundärtugenden“, mit denen sich, wie man weiß, auch ein KZ betreiben läßt. Doch so wahr Sekundärtugenden nicht alles sind, ist ohne sie alles nichts! Wieviel Primärtugenden stecken wohl hinter der Untreue, die der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann oder Ex-General Reinhard Günzel von Union und Bundeswehr erfuhren? Man möchte gar nicht wissen, wie es um die Überzeugungstreue lautstarker Karrieredemokraten bestellt ist, sollte die Ernstfall-Alternative einmal nicht mehr nur lauten: Rücktritt samt Pension oder das nächsthöhere Pöstchen, sondern wenn es gilt, mit handfesten Nachteilen, vielleicht sogar mit Blut für eine Haltung einzustehen! Wie der „Fall Grass“ zeigt, hat die bundesdeutsche Demokratie klammheimlich von Voraussetzungen gezehrt, die vor ihr entstanden sind und die sie undifferenziert denunziert hat. Jetzt sind sie aufgebraucht. Und was kommt danach?