Etwas weniger im Blickfeld als die Arbeit seines Kollegen Meinhard Miegel steht das jüngste Werk des emeritierten Professors für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld, Franz-Xaver Kaufmann. In seiner Analyse geht er weniger auf die Problematik der „alternden Gesellschaft“ ein, sondern beschreibt das darauf zwangsläufig folgende Phänomen: die schrumpfende Bevölkerung. Zunächst klärt der Autor zwei Fragen, die sonst kaum problematisiert werden: Wie definiert man die Basis der Bevölkerungsgröße, und welche Rechtfertigung kann es dafür geben, die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen zu wollen? Kaufmann konstatiert, Bevölkerung als politischer Begriff setze einen gemeinsamen Solidaritätshorizont voraus. In der Vergangenheit sei dieser Horizont mit den undurchlässigen Grenzen des Nationalstaates identisch gewesen. Daran habe sich prinzipiell nichts geändert. Trotz erleichterter Migration und europäischer Integration „bleibt der nationale Schicksalsraum als solcher bestehen, und sei es in der banalen Form der Standortkonkurrenz“. Diese Definition ist nicht als eine völkische, sondern als eine sozialpolitische Standortbestimmung zu verstehen. Das wird auch deutlich, wenn Kaufmann auf die Legitimation bevölkerungspolitischer Maßnahmen eingeht. Aus dem historischen Kontext leitet er zwei mögliche Legitimationen her: eine machtpolitische und eine wohlfahrtspolitische. Für die Gesellschaft, wie sie sich heute in Europa etabliert hat, scheint ihm die Steigerung der Wohlfahrt als ein akzeptierter Wert. Wenn dieser durch die Bevölkerungsentwicklung gefährdet wurde, so rechtfertige dies ein Eingreifen. Die machtpolitischen Auswirkungen des Bevölkerungswandels skizziert der Autor zwar, führt sie jedoch bewußt in der weiteren Diskussion nicht als Legitimation an. Am Beispiel Frankreichs im 19. Jahrhundert beschreibt Kaufmann, wie Geburtenschwund letztlich nicht nur die Wohlfahrt negativ beeinflussen kann – schließlich fiel Frankreich im Laufe eines Jahrhunderts wirtschaftlich und auch gesellschaftlich weit hinter das wachstumsstärkere Deutschland zurück. Erst 1938 habe man auf diese Entwicklung in Frankreich durch eine bewußte Familienpolitik reagiert. Kaufmann schöpft dabei aus seinen Erfahrungen als Gastwissenschaftler am französischen Institut National d’Etudes Demographiques (INED). Bezugnehmend auf Arbeiten von französischen Wirtschaftswissenschaftler stellt Kaufmann auch die etwas ketzerische Frage nach dem Wert der Bevölkerung eines Staates. Dabei kommt er für Deutschland im Jahr 1991 auf einen Betrag von 21.000 Milliarden Mark. Dies übertrifft deutlich den Wert des gesamten Anlagevermögens von 12.600 Milliarden Mark. Allerdings hat der Geburtenschwund im nationalen Humankapital tiefe Spuren hinterlassen. Durch das Fehlen von etwa 9,6 Millionen Geburten, die zum Erhalten der Bevölkerungszahl notwendig gewesen wären, sind 1972 bis 2000 Investitionen von etwa 4.800 Milliarden Mark in das Humankapital entfallen. Diese Investitionslücke wird in der Zukunft die Wirtschaft schädigen. Mit Prognosen, die dem Rückgang des Humanvermögens nur eine begrenzte Wirkung zuschreiben, rechnet Kaufmann scharf ab und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Verharmlosungs-Diskurs“. Er selbst geht davon aus, daß der anhaltende und sich beschleunigende Bevölkerungsrückgang zu einer Reihe gleichgerichteter negativer Erscheinungen führt. Diese ergriffen die verschiedensten Gesellschaftsbereiche, so daß eine Kompensation zwischen den Bereichen nicht möglich sei. Als Beispiel führt Kaufmann die Hoffnung an, daß steigende Produktivität die wachsenden Soziallasten kompensieren wird. Aber wie soll die Produktivität steigen, wenn die Arbeitnehmer immer älter und damit unflexibler und weniger leistungsfähig werden? Aus ähnlichen Gründen hält Kaufmann auch nichts von der These, das Pro-Kopf-Einkommen könnte weiter steigen, auch wenn die Gesamtwirtschaft durch die Bevölkerungsschrumpfung zurückgehe. Ein dafür notwendiger erhöhter Kapitaleinsatz würde daran scheitern, daß bei schrumpfender Bevölkerung auch die Immobilien an Wert verlieren und somit ein erheblicher Teil des Volksvermögens abschmilzt und nicht mehr zur Verfügung steht. Zudem sei eine Erhöhung der Produktivität unwahrscheinlich, wenn es nicht mehr genug zahlungsfähige Abnehmer gebe, um die hohen Investitionen zu rechtfertigen. Zumindest die Produktion für den Binnenmarkt werde durch den Bevölkerungsrückgang somit nicht nur in ihrer absoluten Höhe negativ beeinflußt, sondern auch an Effektivität verlieren. Sollten sich diese Prognosen bestätigen, so ist für die nächsten Jahrzehnte in Deutschland mit einer düsteren Wirtschaftsentwicklung zu rechnen. In einem Punkt irrt Kaufmann: Die Bevölkerungsabnahme beschleunigt sich zwar zunächst, wie er anmerkt. Dies ist allerdings keine Folge eines von ihm vermuteten „exponentiellen“ Verhaltens, das sich immer mehr verstärkt und zu einer „Bevölkerungsimplosion“ führt. Vielmehr ist die Bevölkerungsentwicklung durch die massive Einwanderung bisher überdeckt worden, sonst hätte es schon seit 1972 einen Bevölkerungsrückgang gegeben, wie auch Kaufmann anmerkt. Auch die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre wirkten stabilisierend, solange sie noch nicht die Elternphase überschritten hatten. Als Dauerzustand führt eine Reproduktionsrate unter dem Erhaltungssatz zu einem Bevölkerungsrückgang, der zunächst schnell und dann immer langsamer abläuft. Das ist mathematisch gesehen zwar eine Exponential-Funktion, aber mit negativem Exponenten. Man kennt dies aus der Kurve des radioaktiven Zerfalls: Im Laufe der Zeit wird die Abnahme immer geringer. Die Schilderungen umfassend negativer Folgen sollten nun aber nicht zu einem „demographischen Fatalismus“ führen, erklärt Kaufmann. Im Prinzip ist jede Gegenmaßnahme zu begrüßen, wenn sie das Humanvermögen erhöht. Das kann auch anderes bedeuten, als die Geburtenrate zu steigern. Einwanderung lehnt Kaufmann nicht prinzipiell ab. Er fordert aber, daß sie das Humanvermögen und nicht nur die Kopfzahl steigert. Im Lichte dieser Forderung erscheint ihm die Einwanderung kaum Linderung zu versprechen. Vor allem wegen des Geburtenschwundes in den anderen europäischen Ländern müsse man damit rechnen, „daß die Humanvermögen der Zuwanderungswilligen in Zukunft immer weniger zu unseren Aufnahmebedingungen passen“. In bezug auf die Geburtenförderung stellt Kaufmann zu Recht heraus, daß die Diskussion über die notwendigen Maßnahmen schwer belastet ist. Viele andere Interessen spielen hier hinein, und so wäre es erst einmal notwendig, eine Sprache zu finden, in der man mit allen Beteiligten – Männern, Frauen, Konservativen, Progressiven – reden kann. Repressive Maßnahmen zur Geburtensteigerung kommen für Kaufmann nicht in Betracht. Er möchte die Handlungsoptionen aller Beteiligten so erweitern, daß die Kinderzahl sich erhöht. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Lebenslage: „Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstande dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung für den Sinn seines Lebens ansieht.“ In bezug auf die demographische Entwicklung müsse man nach der Lebenslage der Familien, also der (potentiellen) Eltern und Kinder fragen. Klar sei allerdings, daß sich durch staatliche Maßnahmen die Spannungen nicht beseitigen, sondern nur vermindern ließen, die sich zwischen einer Entscheidung für Kinder und anderen gesellschaftlichen Anforderungen ergeben. Unter anderen führt Kaufmann an: „Die Spannung zwischen dem herkömmlichen Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie und alternativen privaten Lebensformen“, „zwischen emanzipativen Fraueninteressen und herkömmlichen Erwartungen an Mutterschaft“, „zwischen Anforderungen des Berufslebens und des Familienlebens“. Die Lebenslage der Familien könne in vier Dimensionen verbessert werden: Rechte – Ressourcen – Gelegenheiten – Kompetenzen. Rechte und Ressourcen überschneiden sich dabei teilweise. Zu den Rechten zählt laut Kaufmann die Anerkennung von Erziehungsleistungen in den Sozialversicherungen, zu den Ressourcen die verschiedenen Finanzierungsmöglichkeiten der Elternschaft. Beim Punkt „Gelegenheiten“ mahnt er vor allem bessere Betreuungsangebote für Kinder an. Zu den notwendigen Kompetenzen der Elternschaft merkt Kaufmann treffend an, daß diese bislang in keiner Weise durch die staatliche Bildung vermittelt werden. Hier kann man hinzufügen, daß die staatlichen Einrichtungen mit ihren gezielten Kampagnen, Frauen zur Berufstätigkeit zu erziehen, sogar einen negativen Einfluß ausüben. Abschließend rechnet Kaufmann mit zwei aktuellen populären Büchern ab: „Das Methusalem-Komplott“ von Frank Schirrmacher und „Die Reformlüge“ des Alt-Sozialdemokraten Albrecht Müller. Beiden macht er zum Vorwurf, die demographische Problemlage nicht verstanden zu haben. Das Buch ist in seiner Perspektive und Intention bemerkenswert. Kaufmann bietet einen Blick auf den Geburtenrückgang, der Ursachen, Folgen und mögliche Gegenmaßnahmen umfaßt. Es unterscheidet sich in seiner mehr soziologischen und weniger demographischen Perspektive von Werken wie „Die demographische Zeitenwende“ von Herwig Birg. Zwar gibt es auch andere soziologische Bücher zum Thema wie „Geburtenentwicklung und Fertilitätsverhalten“ von Johannes Kopp, das sich jedoch in der Untersuchung von Ursachen des demographischen Wandels erschöpft. Franz-Xaver Kaufmann: Schrumpfende Gesellschaft – Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 270 Seiten, broschiert, 10 Euro Leere Geschäfts- und Büroflächen in Schwerin im Angebot: Ein erheblicher Teil des Volksvermögens steht nicht mehr zur Verfügung Foto: picture-alliance / ZB
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