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Sie folgen ihm wie Lemminge

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Die neunte Frage, die Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 dem im Berliner Sportpalast versammelten Publikum stellte, lautete: „Seid Ihr damit einverstanden, daß, wer sich am Kriege vergeht, den Kopf verliert?“ Das Protokoll vermerkte: „Stürmische Rufe: ‚Ja!‘ Starker Beifall.“ Das Publikum war ausgewählt, die Stimmung aufgepeitscht. Und vor allem: Wer bei dieser Gelegenheit „Nein!“ gerufen hätte, der wäre in kürzester Zeit buchstäblich kopflos geworden. Laut dem neuen Buch von Götz Aly wurde das „Dritte Reich“ jedoch nicht so sehr durch Terror und Propaganda zusammengehalten, sondern durch soziale Wohltaten, mit denen das Regime sich bis zum Schluß die Loyalität der Untertanen erkaufte. Das „Dritte Reich“ sei eine „Gefälligkeitsdiktatur“ und die Verfolgung, Enteignung und Ermordung der Juden und die Ausplünderung der europäischen Nachbarn die ökonomisch Basis dafür gewesen. Deutsche Öffentlichkeitsarbeiter träumen bereits von einem neuen Historikerstreit. Die Erkenntnis, daß die Nationalsozialisten natürlich auch Sozialisten waren und die Judenverfolgung unter anderem finanzielle und kriegswirtschaftliche Motive hatte, ist nicht neu. Aly breitet zahlreiche neue Belege dafür aus. So weit, so gut. Aber nicht das erklärt den fast einhelligen Jubel des deutschen Feuilletons, sondern der Einbruch des Bild-Journalismus in die Geschichtswissenschaft samt der wieder aufgewärmten Kollektivschuld-These. Aly schreibt von „Hitlers zufriedenen Räubern“, den „bewaffneten Butterfahrern“, von „rassen- und klassenbewußten“ NS-Planungen als „konkreter Utopie für jedermann“. Damit liegt er voll im Trend, denn erstens verkaufen Nazi-Themen sich immer gut, und zweitens muß der aktuelle Abbau des deutschen Sozialstaats ideologisch unterfüttert werden. Warum ihn nicht als den fälligen Abschied vom Nationalsozialismus begründen? Auch dessen System war schließlich „zum allgemeinen deutschen Vorteil angelegt. Am Ende hatte jeder Herrenmensch – und das waren nicht allein irgendwelche NS-Funktionäre, sondern 95 Prozent der Deutschen – Anteile von dem Geraubten in Form von Geld in der Tasche oder als importierte, im besetzten Ausland mit geraubtem Geld und Gold bezahlte Lebensmittel auf dem Teller.“ Jede „nach Köln versandte Butter oder der ärmellose Pulli aus Antwerpen und jede einzelne Zigarette (wurden) zu einem mehr oder weniger geringen Anteil auch mit den Hinterlassenschaften der enteigneten und ermordeten Juden bezahlt“. Und weil die „Sorge um das Volkswohl der Deutschen (…) die entscheidende Triebkraft für die Politik des Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens“ bildete, zogen 1945 „so viele den selbstbestimmten, aktiven Untergang der Kapitulation vor“. Der Abwehrkampf an der Ostfront war also ein letztes, freiwilliges Plebiszit für den NS-Sozialstaat. Am Ende zitiert Aly den Exilanten und Architekten Julius Posener, der 1945 mit den britischen Truppen in Köln einzog. Ihm zufolge sahen die Menschen hier „gut aus, rosig, munter, gepflegt und recht gut gekleidet“. Posener veröffentlichte diese Sätze als Offizier der britischen Armee, was Anlaß für einen quellenkritischen Vorbehalt sein müßte. Bei anderer Gelegenheiten äußerte er sich differenzierter. Seine Schilderung suggestiv als Tatsachenbeschreibung anzuführen, wie Aly das tut, ist ungeheuerlich. Adenauer fand die Kölner zur selben Zeit „bleich, müde, abgehärmt“, und Stephen Spender, der kurz nach Posener in Köln eintraf, kam in eine „Stadtleiche“, besiedelt von „Nomaden“ und „Parasiten, die einen Kadaver aussaugen“. Der US-Korrespondent William Shirer, der bis Ende 1940 in Berlin ausharrte, freute sich auch deshalb auf jede Reise in die Schweiz, weil er sich dort endlich satt essen konnte. Die Berliner Journalistin Ursula von Kardorff schrieb am 12. April 1944 in ihr Tagebuch: „Neulich, in einem Lokal, wurde mir klar, wie es noch kommen wird. Neben uns saß ein Paar, sie in fleckigem Pullover, er in Hosenträgern. In einer großen Feldflasche hatten sie Eierkognak und boten davon den Kellnern an. Als wir unser kümmerliches Menü mit einem IG-Pudding von giftiger Farbe beendet hatten, servierte man ihnen gebratene Ente, dazu roten Sekt. Das sind die Typen, denen die Zukunft gehört.“ In Alys Darstellung steht das Schieberpärchen für alle Deutschen im Krieg. Ohne einer Rezension vorgreifen zu wollen, soll hier festgehalten werden, daß Aly solche Manipulationen nötig hat, um seine Generalthese zu stützen, wonach der Krieg zu siebzig Prozent vom eroberten Ausland finanziert wurde. Die deutsche Staatsschuld sei hingegen nur „virtuell“, für den Bürger nicht spürbar gewesen, weil, so Aly, keine praktischen Einschränkungen daraus folgten. Die Begleichung der Staatsschuld wurde auf die Zukunft vertagt, in der sie von den unterjochten Völkern geleistet werden sollte. Die deutschen Rezensenten folgen ihm darin wie die Lemminge. Nur ein Brite, der in Cambridge lehrende Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, hat in zwei Artikeln in der taz den „grundlegenden Denkfehler“ benannt, der Aly in Widerspruch zur „gesamten wirtschaftshistorischen Forschung“ setzt. Tooze zitiert Finanzminister Schwerin von Krosigk: „Der Güterbedarf des kämpfenden Heeres kann nur aus dem angesammelten Vermögen (der Vergangenheit) oder neu produzierten Waren (der Gegenwart) befriedigt werden. Die Last kann nicht auf die Zukunft verlagert werden.“ Das NS-Regime habe den Menschen einen großen Konsumverzicht zugemutet. Dreiviertel der Kriegskosten sei von den Deutschen aufgebracht worden, denen „mehr abverlangt wurde als der Bevölkerung jedes anderen vergleichbaren westlichen Landes. Ein Gefälligkeitsregime war das nicht, sondern eine fordernde und zunehmend repressive Diktatur.“ Ab 1942 sei der Krieg für Deutschland nur noch ein „blutiger Opfergang (gewesen), der in der Geschichte seinesgleichen sucht“. Alys These sei „haltlos“ und beruhe auf einer „dramatischen Scheinrechnung“. In Deutschland aber wird Sachkunde durch politisch-korrekte Stimmungen ersetzt. Die Berliner Zeitung findet das Buch „sensationell“, die Welt „bahnbrechend“, die Zeit „provokant“. Goldhagen-Trommler Volker Ullrich freut sich, daß die kruden Thesen seines Schützlings „vom Kopf auf die Füße“ gestellt, mithin rehabilitiert seien, und die FAZ nennt Alys Interpretation „schlüssig, ja faszinierend“. Alys Buch heißt „Hitlers Volksstaat“. Sechzig Jahre nach dem Tod des Ungeheuers bildet das anständige Deutschland einen virtuellen Sportpalast und kräht: „Führer befiehl, wir folgen!“

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