Heinrich Böll glaubte, man erkenne die Deutschen daran, ob sie den 8. Mai als „Tag der Niederlage oder Befreiung“ bezeichnen – eben als „gute Demokraten“ feiern oder als „Ewiggestrige“ beklagen. Für Böll, der seinen kleinbürgerlichen Rasterblick literarisch aufpeppte zum pompösen moralischen Weltbild, schieden sich an dieser Frage Schafe und Böcke. Solchem Dualismus steht aber die Widersprüchlichkeit der Ereignisse und deren Vieldeutigkeit entgegen. Theodor Heuss hat es so formuliert: 1945 sei das „tragischste und fragwürdigste Paradox für jeden von uns, weil wir in einem befreit und vernichtet worden sind“. Doch hat sich nicht seine komplexe und menschlichere Sicht, sondern die Polemik Bölls durchgesetzt, eine linke Kampagne 1995 die Worte des noblen Schwaben sogar unter Faschismusverdacht gestellt. Kollektivschuld und Befreiung als Eckdaten „1945“ entwickelte sich zum universalen Bezugspunkt – ein Utopieersatz, der als multiple Größe die Nachgeborenen in Atem hält und noch die Gegenwart in jeder Weise dimensioniert: Gottesersatz, Machtmaschine, Identitätsstrategie, Ordnungsmotiv und Ariadnefaden in einer überkomplexen Welt. Wo die Fakten jedoch vom gedenkpolitischen Konstrukt absorbiert werden und andere ihre Schweinereien gern im schwarzen Loch deutscher Kollektivschuld versenken, ist es notwendig, mit gegenläufigen Informationen unbequem zu fallen. Dazu leistete die 5. Winterakademie des IfS einen satten Beitrag mit ihrer überaus ergiebigen, perspektivenreichen Tagung. Unterschiedliche Medien, Disziplinen, Fragestellungen orientierten über Fakten der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, über politische Semantik; die Teilnehmer hörten Zeitzeugen, folgten philosophischer Tiefenanalyse und schließlich gar dem poetischen Abstieg ins mythische Gelände der deutschen Seele. Sechs Fachbeiträge, Autorenlesung und Filmvorführung zeigten die Akademie idealtypisch in praxi. Die Deutungsgeschichte von „1945“ rekonstruierte Karlheinz Weißmann ihren wechselnden Perioden, Akteuren, Konzepten nach: insgesamt eine Wendung von existenzieller Erfahrung hin zu ideologischer Überformung und politischer Funktionalisierung. Das wirft die Frage auf, wie zwei so disparate Aspekte wie „Kollektivschuld“ und „Befreiung“ verschmelzen und zu Eckdaten deutscher Selbstbestimmung werden konnten. Erst die neue Linke und ihre grünen Epigonen machten die „Umerziehung“ samt „Kollektivschuld, gerechter Bestrafung und Notwendigkeit einer ständigen Überwachung durch tätige Reue“ perfekt. Wer diesen Diskurs besetzte und effektiv steuerte, institutionalisierte öffentliche Pathologie; er verewigte kollektive Selbstentzweiung und mag die „deutsche Neurose“ nun bewältigungspolitisch ausschlachten. Voraussetzung dafür waren freilich der Verlust authentischer Zeitzeugenerfahrung und eines (systematisch ausgehebelten) nationalen „Schutzreflexes“. Hinzu kommen Entchristlichung und die Etablierung eines ominösen moralischen Weltbildes, dessen angemaßter Universalismus divergierende Blickwinkel ausschließt. Zu Recht forderte Günter Scholdt den multiperspektivischen Betrachtungsraum statt der „totalitären Einschwörung auf einen Propagandawinkel“. Solcher Mahnung verdankte sich inhaltlich und kritisch auch sein Referat, „Deutschlandbilder von Schriftstellern zwischen 1938-1949“. Diese kristallisierten sich um ganz verschiedene Motive: die Europaidee, die christliche Renovation, aber auch den Negativmythos aller Deutschen, also das Klischee vom aggressiven Nationalcharakter und preußischen Militarismus. Solchen Pauschalierungen entgegen steht „Des Teufels General“ (1946) von Carl Zuckmayer, dem leider unrepräsentativen „großen positiven Kontrapunkt“ nach 1945. Undogmatisch, psychologisch realistisch, bereit, sich der prekären Zeiterfahrung mit allen Implikationen zu stellen, schafft er auf dem Theater Raum für Menschlichkeit, Verantwortung, Schuld, auch Tragik. Doch Zuckmayers großartige Parabel verblaßte bald. Polemische Stereotypen traten an ihre Stelle. So griff der Kindler 1974 die „politische Ahnungslosigkeit und moralische Skrupellosigkeit“ des Helden an und warf dem Autor „Verharmlosung“, ja „Glorifizierung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“ vor, als „kritischer Befund“ – glatter Unfug. Scholdt verdeutlichte den Krieg als Trennscheide für Selbsterfahrung und Zeitdeutung innerdeutscher und exilierter Autoren. Wer den Bombenkrieg erlitt, wird Klaus Manns Siegeshymnus auf die RAF als „fliegende Festungen der Demokratie“ wenig goutiert haben. Die Sieger kamen kaum als „Befreier“; selbst „objektiv“ Befreite wurden oft von furchtbarer Situationsdialektik erfaßt, wie jene jüdischen Frauen, die, von den Sowjets aus dem KZ geholt, sogleich von ihnen vergewaltigt wurden. Kein Wunder, daß Autoren sich von der kollektiven Staatsidee ab- und individuellen Denkfiguren zuwandten, so Ernst Jünger, dessen Entwicklung von den „Marmorklippen“ zum „Waldgang“ Scholdt erläuterte. Illusionslos notierte Jünger in „Strahlungen II“: Die Mitleidlosigkeit der Besatzer wäre „erträglich“, wenn man sich damit „abfindet, daß man den Krieg verloren hat (…) Unangenehmer sind die Landsleute, die sich einbilden, daß sie den Krieg mitgewonnen haben (…) Das Gespräch mit solchen Gästen erinnert an die Zeiten der Gleichschaltung, in denen es mit umgekehrten Vorzeichen geführt wurde. Der Typus des Belasteten durchwandert die Systeme und mit ihm der Typus des Verfolgers, sich mit ihm ablösend, oft in derselben Person (…) davon lebt die politische Welt.“ Einzig der Dichter stiftet das Reich, der Hüter am Goldhort Vielgestaltig, gleichwohl deprimierend das Bild der Nachkriegssituation, das Heinz Nawratil in seinem Beitrag „Zivilbevölkerung und Kriegsende“ zeichnete. Lang schon befaßt er sich mit Kriegs- und Nachkriegselend („Die deutschen Nachkriegsverluste unter Vertriebenen, Gefangenen und Verschleppten“, 1986, und „Schwarzbuch der Vertreibung. 1945-48“, 1994). Wer den Vandalismus an Menschen und Sachen nur den Sowjets zutraute, den mochten Nawratils Eröffnungen über das Vorgehen der Westalliierten schockieren. Auch sie überzogen 1945 ihre Zonen mit Brutalität an Internierten, Plünderung, Massenvergewaltigungen und terroristischer Zerstörung. Die anschließende Diskussion kreiste um das Schicksal der „Zivilinternierten“ als schwarzes Loch in Kollektivgedächtnis und Forschung. Quellen werden unter Verschluß gehalten, die Opfer lösen sich in Luft auf, und Archive von Opferverbänden verschwinden spurlos. Die Internierungspraxis der Westmächte, resümierte Weißmann, sei „schlicht unbekannt“ (Niethammer). Strebten die Amerikaner bei der Entnazifizierung immerhin eine individuelle Schuldfeststellung an, regierte bei den Sowjets reine Willkür. Ihnen waren bereits feste Internierungskontingente für Tribunale, „Speziallager“ und Deportation vorgegeben. Hier präsentierte Dirk Jungnickel erschütternde Augenzeugenberichte mit seinem Film über die Militärtribunale in SBZ und DDR („… und die übrigen werden erschossen“), dritte Folge seiner fünfteiligen „Zeit-Zeugen“-Reihe, die menschenverachtendes Unrecht zwischen 1945 und 1953 dokumentiert. Die materielle Dimension des Kriegsendes konturierte Dag Krienen mit seinen Ausführungen zum Thema Reparationen, wobei es „nur“ um die Aufwendungen der Jahre 1945/53 ging, nicht um die „Entschädigungen“ der BRD bis heute (100 Milliarden DM), die sekundären Reparationen nach 1953, Besatzungskosten, Kriegstrophäen, noch um Zwangsarbeiterentschädigungen. Ganz verschieden das Schicksal der Ost- und Westzonen, zumal bei den Industriedemontagen. Schon bald machte sich die neue Konstellation des Kalten Krieges bemerkbar. Die Amerikaner peilten ein Weltwirtschaftssystem ihres Zuschnitts an; Westdeutschland wurde schnell interessant als neuer Verbündeter und Absatzmarkt. Wie wenig die Binnenperspektive Ursprung, Dimensionen und Dynamik des Weltkriegs auszuschöpfen vermag, hat neuere Forschung seit 20 Jahren gezeigt. Stalin und die „Präventivschlagthese“ standen dabei im Mittelpunkt. Stefan Scheil zeigte nun („Der diplomatische Weg zur Kapitulation“), wie notwendig es die weltpolitische Logik der großen Mächte dieser Ära zu analysieren gilt. Nach der „Versailler Ordnung“ herrschte in Europa 1933/39 ein „Vierer-Direktorium“ der Großmächte. Mit 1945 endete das „Krimkriegsszenario“; UdSSR und USA unterwarfen Europa dauerhaft ihrem Einfluß. Die langfristige Planung beider Weltmächte betraf nicht nur das Deutsche Reich, sondern involvierte etwa die antibritische Agenda der USA (1932/41) oder die kommunistische Durchdringung Osteuropas. Solche Faktoren eskalierten den Krieg, führten auf alliierter Seite schon früh zum Kriegsziel der „bedingungslosen Kapitulation“ (Verfügung über „Land, Freiheit, Leben“), machten die Verhandlungsangebote Berlins, aber auch die Friedensideen des patriotischen Widerstands zur Makulatur. „Der Dichter wirkt im Wald der Symbole. Einzig der Dichter stiftet das Reich. Er ist der Hüter am Goldhort (…) Er verwaltet die Reichtümer, die nur noch im Traum zugänglich sind“, so der Mythopoet Rolf Schilling in seiner Meditation „Geheimes Deutschland“. Sein Auftritt katapultierte die Zuhörer in einen „ganz anderen“ Horizont. Schilling, dem Kulturbetrieb fern, ein Esoteriker, ist Magnet einer hermetischen Lesergemeinde. Seine Hörer nahm er mit auf eine „Reise nach Ostpreußen“, wo er auf der Wolfschanze nach deutschen Mythen fahndet. Schillings enigmatische Bilderfülle, ein phantastischer Gegenentwurf zum zweckrationalen System, negiert und bestätigt dies in einem. Gestaltend einzugreifen vermag nur der Gedanke, der neuzeitlicher Ratio mächtig, ihrer Defizite und Krisen eingedenk, diese auf tieferen Grund hin und höhere Einheit übersteigt, bloße Kritik in substantielle Positivität aufhebend. Es gab eine Zeit, da die Deutschen „Leben“ als „innere Einigkeit mit geistigem und göttlichen Wesen“ begriffen und die metaphysische Idee der Wissenschaft, den „Sinn für Totalität“ als das „Innere, Wesen und Herz der Nation“ (Schelling) bestimmten. Nach dem Verfall des Erhabenen sei weltanschauliche Synthesis die eigentliche „Aufgabe des deutschen Geistes“, der Impuls zur Metaphysik das Maß seiner nationalen Würde. Deutsche Katastrophe und universaler Seinsverfall Wessen Hoffnung auf solch ein „deutsches Philosophieren“ schon resignierte, den überraschte nun Harald Seubert mit seinem Vortrag zum späten Heidegger. Die deutsche Katastrophe sah der Meister aus Meßkirch modernitätskritisch universalem Seinsverfall eingezeichnet. Hier waltet ein Geschick, das nicht mit Aufrichten einer „moralischen Weltordnung“ billig abwendbar ist. Konfrontation des modernen Menschen mit der planetarischen Technik, lautet die Weltstunde. Technokratischer Wille ist universell geworden als monströses „Gestell“, als neuartige Machtform und „Biopolitik“. Die totale Struktur des Gestells verstrickt uns tiefer in die verdinglichte Welt, trennt uns vom Numinosen ab. Verwahrloster Rationalismus sucht das Andenken der ihn übersteigenden Idee zu tilgen, die Spur des Heiligen zu verwischen, den „Fehl Gottes“ zu beschweigen. Er vollendet die „Immanenzrevolution“, die Einmauerung des Menschen, seine Kreuzigung zum leblosem Funktionär. Das Beste und Tiefste wird exorziert, Deutschland zur Mittelmäßigkeit verkrümmt. Also fragte Seubert mit Heidegger, ob die Deutschen wohl endgültig scheitern, das Opfer fremder Gedanken werden – oder aber ein Umschwung ins „Unverborgene“ der Wahrheit einsetzt. Er stellte Heideggers Denkweg der dreißiger und vierziger Jahre anhand der Vorlesungen zur Metaphysik, zu Nietzsche, zumal in den „Feldweggesprächen“ dar: eine „Kehre“ vom Heroismus der „Entschlossenheit“ hin zur „Inständigkeit“, zur „Gelassenheit“ in den Zuspruch des Seins vor trostloser Raserei einer modernen Welt. Eine Debatte folgte, kontrastreich und produktiv, trotz der Mißverständnisse: die Akademie in schöpferischem Streit über actio und contemplatio. Freilich: Heideggers Einkehr ins anfängliche Denken, seine Absage an bodenlosen Aktivismus, sein Horchen auf die Stimme des Seins zielen auf eine letzte denkerische Verdichtung und „Radikalisierung“ – genaues Gegenteil von „Schwäche“ oder „Ausflucht“. Vollends verfehlt, diese Ursprünglichkeit pragmatisch auf „Teillösungen“ zu verweisen. Hat doch dieser Positivismus eben genau jene instrumentelle Vernunft ins System gebracht, die zum Quell aller Probleme wurde. So steht die Frage am Schluß: Was meint „Handeln“? Foto: Trümmerfrauen in Berlin: Das Beste und Tiefste wird exorziert Institut für Staatspolitik, Rittergut Schnellroda, 06268 Albersroda, Tel./Fax: 03 46 32 / 9 09 42, Internet: www.staatspolitik.de
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