Als die Bürger der DDR im Oktober 1989 immer drängender Reformen verlangten, ließ Staats- und Parteichef Egon Krenz dem Politbüro eine Analyse der Wirtschaftslage unterbreiten. Der Bericht war niederschmetternd. Die Industrie war fast zur Gänze veraltet, das Verkehrswesen desolat, die Schuldenlast erdrückend. Eine Absenkung des Lebensstandards um dreißig Prozent war unumgänglich, aber dann – so das Fazit – werde das Land unregierbar. Die DDR brauchte Anlehnung, und die konnte sie nur bei der Bundesrepublik finden. Am Ende der nun beginnenden Entwicklung stand am 3. Oktober 1990 der Beitritt ganz Berlins und der neu konstituierten Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Bundesrepublik. In den knapp fünfzehn Jahren seither summierten sich die Netto-Transferleistungen aus den alten in die neuen Bundesländer auf 1,4 Billionen Euro. Trotz dieser gewaltigen Aufwendungen steht die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands immer noch deutlich hinter der des Westens zurück. Das Bruttoinlandsprodukt liegt um ein Drittel unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt, die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch; sie belief sich im Dezember 2004 auf 18,5 Prozent, während sie im Westen nur bei 8,7 Prozent lag. Eine Änderung ist nicht abzusehen. Uwe Müller, Ökonom und Soziologe und langjähriger Korrespondent für Die Welt aus den neuen Ländern, berichtet über all das mit einem großen Aufwand an Zahlen und mit schneidender Schärfe. Er hält der Regierung Kohl eine völlige Unkenntnis der Lage in der DDR vor. Darauf führt er die seines Erachtens verheerenden Fehler zurück, die im Einheitsprozeß gemacht wurden. Insbesondere kritisiert er die Währungsumstellung eins zu eins, die die Unternehmen im Osten einem starken Aufwertungsdruck aussetzte, die sofortige Übertragung des komplizierten westdeutschen Rechts, die Tätigkeit der Treuhandanstalt und die von den Gewerkschaften betriebene, von den Regierungen hingenommene aggressive Lohnpolitik. Er bemängelt die kollektive Anspruchshaltung und die Subventionsmentalität und beklagt, daß ein Großteil der zugeführten Gelder in den Konsum gesteckt wurde. Da nach dem Solidarpakt II die Geldzuflüsse aus dem Westen bis 2019 kontinuierlich sinken und dann enden, braucht der Osten ein jährliches Wirtschaftswachstum von mindestens drei Prozent. Solche Raten hat es in den letzten zehn Jahren nicht gegeben, und nichts deutet darauf hin, daß es sie künftig geben wird. Weniger Transfer bedeutet weniger Investitionen und weniger Konsum. Diese negative Entwicklung wird noch gefördert durch den seit 1990 starken Bevölkerungsrückgang. So sieht Müller die Alarmstufe Rot erreicht: Der Druck im Kessel wächst, die ersten feinen Risse sind schon erkennbar. „Geraten die einzelnen Elemente erst einmal in Beschleunigung und treffen aufeinander, lösen sie eine Kettenreaktion aus. Den Sugergau Deutsche Einheit.“ Diese Katastrophe beschreibt Müller nicht. Er fürchtet im Osten eine wachsende Abkehr von der Demokratie und sieht im Westen das Gespenst des Separatismus. Soll ein derart schlimmer Ausgang des Projektes Deutsche Einheit verhindert werden, ist ein Kurswechsel nötig. Der Autor empfiehlt für den Osten eine Senkung der Gewerbesteuer um die Hälfte, die großflächige Rodung des Förderdickichts, die Unterbindung der Neuverschuldung, eine Revision des Finanzausgleichs, die Schaffung eines Sonderwirtschaftsgebietes Ost und eine Gebietsreform nach Artikel 29 des Grundgesetzes mit einem Nordstaat aus Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern und einem Südstaat aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Für eine bestimmte Zeit, bis zur Erreichung von vier Fünfteln der westdeutschen Wirtschaftskraft, sollte aber keine der derzeitigen 23 Bundesratsstimmen des Ostens verlorengehen. Daß eine Besserung auch aus eigener Kraft möglich gewesen wäre, belegt Müller mit breiten Hinweisen auf die Reformstaaten des Ostens, die eine deutlich geringere Arbeitslosenquote als die neuen Bundesländer haben und Investitionen anziehen, im Wohlstand allerdings noch zurück sind, und mit dem Verweis auf die Entwicklung Irlands seit 1987. Im Text des schmalen Bandes mit dem reißerischen Titel könnte die Dramatik etwas zurückgenommen werden. Auch wünschte man sich bisweilen eine straffere Darstellung. Sehr nützlich wäre ein Tabellenverzeichnis, damit man nicht lange suchen muß, wenn man eine Zahl nochmals bedenken möchte. Auch hätte der historische Kontext breiter beachtet werden sollen. Dann wären die Urteile über die Akteure vermutlich minder hart ausgefallen. Helmut Kohl, Theo Waigel und Otto Graf Lambsdorff waren sich des Risikos sehr wohl bewußt, als sie am 6. Februar 1990 beschlossen, der DDR Verhandlungen über eine baldige Wirtschafts- und Währungseinheit anzubieten. Sie glaubten aber nicht, daß die DDR selbst bei enger Verbundenheit mit der Bundesrepublik das Wohlstandsgefälle zwischen den beiden deutschen Staaten in kurzer Zeit ausgleichen könne. Zudem waren sie überzeugt, daß die Abwanderung aus der DDR sich nur dann aufhalten lasse, wenn man ihren Bürgern mit der Deutschen Mark ein Signal zum Bleiben gäbe. Nützlich wäre es schließlich gewesen, wenn Müller die Bundesrepublik stärker als Ganzes in den Blick genommen hätte. Nicht nur der Aufbau Ost schafft Probleme, die Bundesrepublik insgesamt bedarf seit zwei Jahrzehnten durchgreifender Reformen. Trotz dieser Anmerkungen: Die Schrift vermittelt eine Vielzahl wichtiger Informationen, macht bedenkenswerte Vorschläge und ist sehr lesenswert. Foto: Zwei junge DDR-Bürger feiern am 2. Oktober 1990 die deutsche Wiedervereinigung: Kollektive Anspruchshaltung und Subventionsmentalität Uwe Müller: Supergau Deutsche Einheit. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2005, 256 Seiten, broschiert, 12,90 Euro Prof. Dr. Hans Fenske lehrt Neuere und neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.
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