Auch Schnellschüsse treffen manchmal ins Schwarze. Das neue Buch von Peter Sloterdijk über die sogenannte Globalisierung („Im Weltinnenraum des Kapitals“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.) ist ganz offenbar viel zu schnell geschrieben, vieles in ihm harrt noch der ordentlichen Ausführung. Aber seine Pointe ist schon gut erkennbar, und sie ist geeignet, die Debatten zu beflügeln und wieder interessant zu machen. An Readern zur Globalisierung mangelt es ja nicht, jeder „Diskursteilnehmer“ fühlt sich inzwischen verpflichtet, sein Scherflein beizutragen. Meistens fallen die Stellungnahmen ausgesprochen kritisch aus, die Schreiber beklagen das von der Globalisierung angeblich angekurbelte „wahnwitzige Tempo“ der modernen Welt, ihre Atemlosigkeit, bei der kaum noch jemand zum genauen Umsehen und Entscheiden komme, vielmehr immer mehr Zeitgenossen richtiggehend unter die Räder gerieten und oft genug erbarmungslos plattgewalzt würden. Auch Sloterdijk sieht die Sache kritisch, doch seine Kritik richtet sich nicht gegen das Tempo, sondern gegen die Langsamkeit, ja, den Stillstand, den der Globalisierungsprozeß allenthalben herbeiführe. Globalisierung ist zwar auch für Sloterdijk ein Verkehrsphänomen, aber sie gehört seiner Meinung nach in die Unterabteilung „Stau“. Im Zeichen der Globalisierung verrotten die Nebenwege und die einfachen Landstraßen, alle fahren nur noch Autobahn und bleiben dort über kurz oder lang im Stau stecken, bei dem dann bekanntlich überhaupt nichts mehr geht. Noch eine zweite Metapher hält Sloterdijk bereit, um die Kalamität zu kennzeichnen: die „Verdichtung“. Globalisierung ist Verdichtung. Sie preßt die Menschenmassen immer enger zusammen, so daß bald alle nur noch den Schweiß des anderen riechen. Die Leute werden dadurch ungeheuer anfällig für Epidemien jeglicher Art. Das große Stichwort der Moderne (oder auch Postmoderne, wie man will) heißt Ansteckungsgefahr. „Wenn Wallstreet zufällig einmal niest, kriegen wir gleich den Schnupfen.“ So sprach man in Deutschland schon einmal, nämlich Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zur Zeit der großen Wirtschaftskrise. Heute ist diese Konstellation faktisch über die ganze Welt verbreitet, also globalisiert. Und sie ist nicht nur mehr auf ökonomische Prozesse, auf Wallstreet, beschränkt, sondern stellt sich noch in den banalsten Verhältnissen her, mit gleichbleibend verheerenden Auswirkungen. In irgendeinem Winkel der Welt sprengt sich ein Selbstmordattentäter in die Luft, und schon spielt die ganze Welt „terroristische Bedrohung“, legt sich auf den Rücken und strampelt hysterisch mit den Beinen, schränkt die bürgerlichen Freiheiten ein und ruft zum Kampf des Guten gegen das Böse. In irgendeinem anderen Winkel verröchelt ein Huhn oder eine Kuh unter ungeklärten Umständen, und schon spielt die ganze Welt „Rinderwahnsinn“ oder „Hühnergrippe“, rudert hysterisch mit den Armen und legt den Handel mit allen möglichen Gütern lahm. Ob Stau oder Ansteckung – es läuft stets auf dasselbe hinaus: auf gegenseitige Behinderung und Einschränkung der Lebenssphären, auf Gleichschritt und Ausrichtung auf jeweils einen einzigen Gegenstand („one issue society“), auf Konformismus und Ersetzung von Handlung durch Pseudo-Handlung. Nicht nur die Massen und die sogenannten „kleinen Leute“ sind davon betroffen, sondern auch und gerade die eigentlichen Täter, die global players und „leitenden Angestellten“ an den Schalthebeln der weltweit operierenden Banken, Industriegesellschaften und Staaten. Sloterdijk bringt das auf die Formel „Inversion statt Expansion“. Früher, in kolonialen und vorkolonialen Zeiten, traten die weltpolitischen Täter als Eroberer und Schatzsucher auf, später, als die Claims abgesteckt und die Einflußsphären aufgeteilt waren, als hemmungslose Ausbeuter der jeweiligen örtlichen Ressourcen an Bodenschätzen und menschlicher Arbeitskraft. Heute, im Zeichen voll ausgefalteter Globalität, also voll ausgefalteter gegenseitiger Behinderung und Ansteckung, werden die großen Taten nur noch vorgetäuscht. Es sind bloße, durch die Medien ins Überdimensionale vergrößerte Gesten, die das, was ohnehin passiert (oder eben nicht passiert), lediglich medial verdoppeln, statt etwas zu verursachen. Bei Staatsmännern ist das bereits so augenfällig, daß es sogar die Karikaturisten bemerken und zum Gegenstand ihrer Scherze machen. Man zeigt Staatshampelmänner. Aber auch viele große Manager und Finanzhaie sind nur noch Hampelmänner, übrigens ohne daß es dabei ein schönes Kasperletheater gäbe. Man behindert sich auch hier gegenseitig. Es wird fusioniert statt investiert. Und an die Stelle der reellen Aktion tritt die „Beratung“, deren Aktivität fiktiv ist, sich in der Möglichkeitsform hält. Die großen Täter von einst sind zu „Consultern“ geworden, zu Beratern ihrer selbst. Sloterdijks Blick auf die Totale der Globalisierung mündet in ziemlichen Pessimismus. Wer hoffnungslos im Stau steht, kommt zu spät zur Arbeit oder zu spät nach Hause, versäumt das Eigentliche. Und Epidemien fordern in der Regel hohe Opfer, Todesopfer, Invaliditätsopfer. Der Globalisierungsprozeß, sagt Sloterdijk, schließt nicht immer mehr Menschen an Wohlstand und Freiheit an, sondern er schließt immer mehr Menschen von Wohlstand und Freiheit aus. Er ist „ein beispielloses Exklusionsphänomen“. „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?“ fragte vor anderthalb Jahren Rüdiger Safranski, Sloterdijks Kollege im „Philosophischen Quartett“ des ZDF, in seinem einschlägigem Reader, und er gab damals zur Antwort: „Ziemlich viel, aber einmal ist Schluß, und dieser Schlußpunkt ist vielleicht gar nicht mehr so fern.“ Nach der Lektüre von Sloterdijks Buch ist man versucht zu sagen: „Vielleicht ist es schon fünf Minuten nach zwölf.“ Sowohl Safranski als auch Sloterdijk zögern sichtlich, sich auf genauere Rezepte für Antidote gegen die Globalisierung einzulassen. Vorsichtig plädiert letzterer für eine (geistespolitische wie institutionelle) Privilegierung des Raums gegenüber der Zeit, für familienorientierte Gesellschaftspolitik und für neue Bildungsstrategien, die örtliche Traditionen wiedererinnern und den Blick für das je Nahe und Eigene schärfen. Man hat das Gefühl, daß der Autor ein bißchen Angst hat, die Autobahn zu verlassen, obwohl es schon Stauwarnungen gibt. Warum denn? Deutsche Landstraßen sind nicht schlecht, sind keineswegs immer Holzwege. Und auch denen läßt sich manches abgewinnen. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 415 Seiten, 24,80 Euro Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch. Hanser, München 2003, 120 Seiten, 14,90 Euro