An diesem Freitag beginnen in Athen die Olympischen Spiele. Zum ersten Mal seit ihrer Neubegründung im Jahre 1896 finden sie wieder in ihrem Ursprungsland statt, in Hellas, es ist ein historisches Datum, an das sich viele Erinnerungen und Gedankenspiele knüpfen. Warum gibt es überhaupt die Spiele, und warum war es Hellas, das sie einst ins Leben rief? Was brachte ausgerechnet die Hellenen auf die Idee, „Sport“, also körperliches Sich-Tummeln, und „Spiel“, lustbetontes, von äußeren Zwecken freies Sich-Regeln-Setzen, zusammenzubringen und solcher Kombination einen derart monumentalen Platz im Leben der Nation und des Staates freizuräumen? Die griechischen Götter schrieben so etwas nicht vor, sie forderten Anbetung und Opferdienst, aber keine Sportspiele zu ihren Ehren. Dergleichen kennt man vielmehr aus sehr fernen, dem Abendland immer unheimlich gebliebenen Gegenden, von den alten Majas in Mexiko etwa, bei denen es als Mittelpunkt des blutgeschwängerten Gottesdienstes eine Art Handballspiel gab. Am Ende wurde eine der Mannschaften kollektiv den Göttern geopfert, und zwar nicht die unterlegene, sondern die siegreiche. Diese Sichtweise lag den Griechen vollkommen fern. „Spiel“, paidiá, war bei ihnen nichts Ernstes, nichts, wofür sich ein erwachsenes Mitglied der Polis auch nur im mindesten interessierte, Kinderkram. Die Spiele der Kinder waren zwar, so glaubte man, freie, keinem praktischen Zweck gewidmete Tätigkeit und kamen dadurch in die Nähe des Vornehmsten, was sich ein Grieche überhaupt vorstellen konnte, in die Nähe der theoría, des interesselosen Erkennens und Begreifens der Welt. Aber es fehlte ihnen das Wichtigste, eben der Drang zum Erkennen, sie waren liebreizend, aber „leer“, Töchter der Charis, der Göttin der Anmut. Neben der paidiá hatten die Griechen nun freilich noch ein anderes Wort für das, was wir heute „Spiele“ nennen, und dieses bezeichnete eine Sache, die an Bedeutung der theoría fast gleichkam, sie vielleicht sogar übertraf. Gemeint ist der agon, das körperliche, leibgeistige Kräftemessen, dessen Zweck, dessen telos, der Sieg im Wettkampf war. Alles, was mit Wettkampf, mit Kräftemessen, mit Sieg oder Niederlage zu tun hatte, war agon, und dieser Agon, auch und gerade in Friedenszeiten, spielte eine wahrhaft ungeheure Rolle im griechischen Leben, man kann beinahe sagen: Er war das griechische Leben. Die Griechen waren seit Urzeiten das Volk des agon; kein anderes Volk kam ihnen in diesem Belang gleich. Nicht nur die regelmäßig veranstalteten Sportspiele waren durch und durch agonal angelegt, sondern zum Beispiel auch der Tragödienbetrieb. Alljährlich zur Theatersaison, also zu den Dionysosfesten, traten die Tragödiendichter zum agon, zum Wettbewerb, an. Es gab, wie bei den Sportspielen, ein strenges Schiedsgericht; jeder Bewerber mußte eine „Tetralogie“, ein Korpus aus drei Tragödien und einem Satyrspiel, aufführen und wurde danach als Sieger oder als Unterlegener eingestuft, genau wie die Olympioniken im Stadion. Selbst die theoría, das Philosophieren, wurde agonal aufgezogen; man sieht es an den Platonschen Dialogen, wo es ja faktisch immer um Kräftemessen geht, darum, welches Argument den Diskussionspartner sticht, wer von den Diskutanten siegt und wer aufs Kreuz gelegt wird. Das war es ja, was Nietzsche dem Sokrates, dem häßlichen Sokrates, so übelgenommen hat: daß er die Tragödie mehr und mehr außer Kurs setzte, indem er in seinen Dialogen ein besseres, aufregenderes agon anbot, das die Jugend bald viel mehr fesselte als die Tragödie und das sie sowohl die Häßlichkeit des Sokrates selbst als auch die Häßlichkeit seiner Methode, dieses Ausdünnens der Metaphern und Bilder, dieser Ersetzung der Schuld durch die bloße Kausalität, vergessen ließ. Faktisch alles übten die Griechen als agon aus. Es wurde bei ihnen nicht einfach geschimpft, sondern wenn sich zwei beschimpften, dann entwickelte sich das sofort zum Schimpf-Wettbewerb; Zuhörer sammelten sich, die die Schimpfenden in sportlicher Weise nach Sieger und Besiegtem einstuften. Wenn irgendwo gesoffen wurde, dann entwickelte sich die Sauferei mit Sicherheit zum Sauf-Wettbewerb. Alexander der Große feierte seinen Sieg über den Verräter Kalanos, indem er einen Trinkwettbewerb mit hochattraktiven Preisen für den Sieger ausschrieb; es wurde so gesoffen, daß fünfunddreißig Teilnehmer auf der Stelle tot umfielen und sechs weitere, darunter der Sieger und Preisträger, nach dem Ende des Agon ebenfalls starben. Es gab alle möglichen Schönheits- und Häßlichkeitswettbewerbe, die dicksten Bäuche wurden prämiert und die dicksten Bizepse, die höchsten Tenöre und die tiefsten Bässe, und selbst beim Zubettgehen wurde noch gewettet: Wer schlief als erster ein, wer blieb am längsten wach? In der Schlacht traten, bevor das blutige Geschäft begann, zunächst einmal die Jünglinge vor die Front, um allerlei Wettstreite auszutragen: Wer war der Schönste, wer konnte den Feind am besten beschimpfen, wer hatte die prächtigsten Waffen, den glänzendsten Schild, den längsten Helmbusch, die höchsten Beinschienen? Es wurden dauernd Wetten über alle möglichen Gegenstände abgeschlossen, mehr als bei den Engländern, deren Wett- (und Sport-)leidenschaft sprichwörtlich ist. Nicht zuletzt die Sphäre der Politik, der Polis also, der Volksversammlung, war ein einziger Wettbewerb. Es ist gar nicht zu übersehen: Der frühzeitige Übergang der Griechen von der Tyrannis zur Demokratie verdankte sich eindeutig ihrer Vorliebe für den Wettbewerb, für das ewige Kräftemessen und Sieger-und-Besiegter-Spielen auch in Friedenszeiten. In der Volksversammlung wurde endlos palavert, weit über das für Entscheidungsfindungen notwendige Maß hinaus, so daß die Redezeiten und die Sitzungszeiten insgesamt streng limitiert werden mußten und durch Sanduhrablauf und Glockengeläut jeweils unmißverständlich angezeigt wurden. Die ganze sophistische Redekunst, die in der Polis entfaltet wurde, war wettbewerbsorientiert, und selbst die Rechtshändel, bei denen es ja – siehe den Prozeß gegen Sokrates – nur allzu oft um Tod oder Leben ging, wurden spielerisch als Wettbewerb aufgezogen, bejubelt und beklatscht. Einzug und Auszug des Gerichts, Anklage und Verteidigung, Orakelbefragung, Andrang des Publikums – auf alles konnten Wetten abgeschlossen werden, bei allem war außer dem Drang nach Gerechtigkeit, nach Herstellung des Rechts, auch der Drang nach Sieg dominant. Ja, die Gerechtigkeit zeigte sich erst und ausschließlich im Sieg, die Gerechtigkeit durfte nicht nur hergestellt werden, sondern sie mußte in jedem Fall siegreich triumphieren. Deshalb ja auch die vielen feierlichen Eide und Anrufungen der Götter am Beginn der Spiele. Gerechtigkeit und Sieg im agon waren stets eins, konnten ohne einander nicht sein. Wenn nun in Athen die olympischen Fanfaren zur feierlichen Eröffnung der 28. Sommerspiele der Neuzeit ertönen, sollte man sich auch daran erinnern. Festspiele zu Olympia, Holzstich nach einer Zeichnung von Hermann Knille (1832-1898): „Die Gerechtigkeit zeigte sich erst im Sieg“