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Verklärung statt Läuterung

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Nach einem trefflichen Bonmot Kurt Tucholskys ist es die Aufgabe des „wissenschaftlichen Sozialismus zu zeigen, wie alles kommen muß – und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte“. Nun ist es – vorerst jedenfalls – nicht so gekommen, wie es nach den Verheißungen des „wissenschaftlichen“ Sozialismus gemäß seinem Grunddogma von der gesetzmäßigen Entwicklung der Geschichte hätte kommen müssen. Nicht das System des real existierenden Kapitalismus ist zusammengebrochen, sondern das System des real existierenden Sozialismus – für die politische und intellektuelle Linke ein kräftiger Erkenntnisschock, allerdings ohne einen entsprechend kräftigen Nachhaltigkeitsfaktor. Es ist einer der folgenreichen Irrtümer unserer Zeit, daß mit dem Zusammenbruch des real sozialistischen Systems auch der Glaube an den „wissenschaftlichen“ Sozialismus zusammengebrochen sei. Davon kann bei näherer Betrachtung keine Rede sein! Vielmehr bestätigt sich aufs neue die Feststellung Friedrich Nietzsches: „So ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt er hätte ihn nötig, so würde er ihn auch immer wieder für ‚wahr‘ halten.“ Obwohl die wesentlichen Glaubenssätze des Sozialismus im Laufe seiner Geschichte immer wieder durch die Wirklichkeit gründlich widerlegt worden sind – man denke nur an die Millionen und Abermillionen Opfer dieser Ideologie -, so ist der Glaube an den Sozialismus für Millionen und Abermillionen Menschen dennoch ungebrochen. Eine Erklärung dafür liegt in der immer wieder erfolgreich verbreiteten Legende von der vermeintlichen „Entartung“ eines angeblich „wahren“ Sozialismus; eine andere in der menschlichen Veranlagung und Fähigkeit, unbequeme Tatsachen zu verdrängen und sich sehr naheliegenden Fragen zu entziehen. Einen überzeugenden Eindruck von der angedeuteten Gemüts- und Bewußtseinslage bekannter Repräsentanten des politischen und gesellschaftlichen Linksspektrums vermittelt der angezeigte Band, mit dem die beachtliche Fülle von einschlägigen Veröffentlichungen um einen maßgebenden Beitrag ergänzt wird. Er vereinigt Interviews mit 16 „linken Vaterlandsgesellen“, eine Anspielung auf das bekannte Diktum Kaiser Wilhelms von den „vaterlandlosen Gesellen“, die der Herausgeber Thomas Grimm in einem Zeitraum von zwanzig Jahren geführt hat. Grimm unterscheidet seine Gesprächspartner nach ihren persönlichen und politischen Biographien als „Sozialisten und Anarchisten, Kommunisten, Raufbolde und andere Unangepaßte“ und verweist damit auf sehr unterschiedliche, teilweise sogar widersprüchliche Motive und Absichten des persönlichen Engagements für den Sozialismus. Auf diese Weise entsteht ein anschauliches Panorama sozialistischen Denkens und sozialistischer Illusionen, das zum Verständnis der jüngeren Geschichte und der gegenwärtigen Stimmungslage in unserem Volke durchaus belangvoll ist. Hans Mayer, Leo Kofler und Rudolf Schottlaender erinnern an ihre Erfahrungen im Kampf gegen den Faschismus und ihre Erwartungen an eine „antifaschistische Neuordnung“ Deutschlands nach dem Zusammenbruch des real existierenden Nationalsozialismus, die allerdings unter den Bedingung des aufkommenden Kalten Krieges sehr rasch enttäuscht wurden; Rudolf Bahro und Heiner Müller vermitteln einen Eindruck von den Problemen sozialistischer Wissenschaftler und Künstler in der DDR; Günter Gaus, Peter Bender, Hans Heinz Holz und Klaus Staeck bemühen sich um Erklärungen ihres Verhältnisses und Verhaltens zum real existierenden Sozialismus und ihrer Auseinandersetzungen mit den „restaurativen Kräften der jungen BRD“. Das beachtliche intellektuelle Niveau, auf dem diese Interviews geführt wurden, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie nicht auf wissenschaftliche Klärung zahlreicher offener Fragen zur Theorie und Praxis des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart abzielen, sondern – nach wie vor – auf seine ideologische Verklärung. Damit wird die politische Zwecklegende von der „Entartung“ des Sozialismus abgestützt und ihre weitere Verbreitung begünstigt. Sehr naheliegende, auf den Kern der Probleme gerichtete Fragen werden entweder gar nicht gestellt oder aber geschickt umgangen wie der heiße Brei von der Katze, um an die harte Kritik zu erinnern, die bereits Marx, Engels und Lenin an den „verkannten schönen Seelen“ unter ihren Anhängern geübt haben, die dem Sozialismus – damals wie heute – „eine höhere, ideale Wendung“ geben wollten, statt sich mit den harten Fakten auseinanderzusetzen. Dazu gehörte beispielsweise eine Antwort auf die Fragen, welche stichhaltigen Nachweise es für die These der „Entartung“ des Sozialismus gibt und wie es möglich war, daß man bis zum Zusammenbruch des Sozialismus jeder Kritik energisch mit dem Hinweis auf einen „primitiven Antikommunismus“ entgegengetreten ist. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus jedweder Art bleibt also auf der Tagesordnung und sollte nicht voreilig als erledigt betrachtet werden. Die Lektüre dieses Buches vermittelt in dieser Hinsicht notwendige Erkenntnisse, welche Maßstäbe dabei zu beachten sind. Thomas Grimm (Hrsg.): Linke Vaterlandsgesellen. Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Raufbolde und andere Unangepaßte. Edition Zeitzeugen. Parthas Verlag, Berlin 2003, 363 Seiten, kartoniert, 34 Euro

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