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Unterschlupf beim Weltzertrümmerer

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Wohl noch nie wurde ein „rundes“ Lebensdatum ei nes Philosophen öffentlich so intensiv gefeiert wie der 200. Todestag Immanuel Kants am 12. Februar. 2004 ist zum „Kant-Jahr“ ausgerufen. Schon Anfang Januar erschien der Spiegel mit einer Kant-Titelgeschichte, und auch viele andere Medien füllten ihre Spalten und Sendeminuten bereits weit vor dem Stichtag mit Kantmitteilungen, Kantanektoden, Kantanalysen. Philosophische und soziologische Platzhirsche, die eben noch als Marxisten oder Linguisten firmierten, geben sich plötzlich als Kantianer zu erkennen, und der einzige glaubhafte Kant-Verehrer und Kant-Anhänger unter den Politikern, Helmut Schmidt, erfährt ehrfürchtigen Zuspruch, nicht zuletzt wegen seines überzeugend vorgelebten Kantianertums. Was wird da eigentlich gefeiert? An sich stehen die Ideenwelt Kants, seine Sprache und sein historisch überlieferter Lebensstil dem Geschmack der Gegenwart sehr fern. Jenseits der Fachseminare weiß kaum noch jemand etwas mit ihnen anzufangen. Kants Geburts- und Heimatort, Königsberg in Ostpreußen, das er sein ganzes langes Leben (1724-1804) nicht verließ, gehört heute zu Rußland und ist den modernen mittel- und westeuropäischen Diskurskreisen sehr ferngerückt. Und dennoch ist Kant aktuell gerade bei denen, die sonst mit Ostpreußen und seinem Erbe nichts am Hut haben. Ein Blick in die erste Kant-Renaissance, die es gab, nämlich das Aufkommen des „Neukantianismus“ vor etwa 130 Jahren, kann vielleicht Aufschluß geben. „Wer mit seiner eigenen Philosophie nicht mehr zurechtkommt, kommt zu Kant“, konstatierte 1904 der Kantianer und „Kathedersozialist“ Karl Vorländer. Das zielte zu jener Zeit vor allem auf den romantischen deutschen Idealismus, speziell den Junghegelianismus, dessen Karten im Spiel gegen den von naturwissenschaftlicher Begeisterung erfüllten Positivismus der Epoche äußerst schlecht aussahen. Die Junghegelianer hatten die Philosophie „verwirklichen“ und damit die Welt von Grund auf „verändern“, sie allen Ernstes in einen Reigen seliger Geister verwandeln wollen. Sie waren gescheitert, die Philosophie war unter ihren Händen zu einem Sammelsurium politischer Schlagwörter abgesackt, aus dem sich ungeniert Kommunisten, Anarchisten und Imperialisten bedienten. Der Katzenjammer war groß. Arthur Schopenhauers weltverneinender Brahmanismus schien die einzige Alternative zu sein, die es für ernsthafte Nachdenker noch gab. Kant ist zum Halteseil und Rettungsanker geworden Der „Neukantianismus“ nun bot sich den beim „Verwirklichen“ gescheiterten Junghegelianern gewissermaßen als Notlazarett und Rehabilitationsklinik an. Man könne, so wurde den Patienten suggeriert, auch mit Kant zu einer „besseren Welt“, vielleicht sogar zum Sozialismus, durchstoßen, ohne gleich die ganze Philosophie, wie das die Positivisten zu tun schienen, in den Wind schreiben zu müssen. Man könne, so hieß es weiter, die Philosophie mit Hilfe Kants endgültig und elegant mit den Naturwissenschaften verbinden. Solche Botschaft klang höchst verlockend. Viele enttäuschte und beschämte Geistesgrößen wandten sich damals dem Neukantianismus zu. Heute leben wir in einer vergleichbaren Lage. Der junghegelianisch-marxistische Verwirklichungs-Coup ist zum zweiten Mal gescheitert, diesmal unendlich viel gründlicher noch als 1848. Hekatomben von Menschenopfern sind zu beklagen, und als Hauptschuldiger für die Katastrophe steht in den Augen vieler die Philosophie da, weil sie es ruchlos unternommen habe, ihre abstrakten Kategorien der lebendigen Wirklichkeit gewaltsam überzustülpen und alles, was nicht unter die Kategorien paßte, einfach wegzuhacken, auch wenn es noch so viel Blut kostete. Was jetzt denken? Sollen wirklich die unter diversen Etiketten triumphierenden Positivisten das letzte Wort behalten, die letztlich nichts zu bieten haben als Anpassung an den sogenannten Selbstlauf und blindes Vertrauen auf physikalisch eruierbare „Naturgesetze“, denen allein deshalb Wahrheitsrang zugesprochen wird, weil ihre Anwendung im Alltag uns das Leben bequemer und komfortabler macht? Dann doch lieber eine neuerliche Rückkehr zu Kant, ein zweiter Neukantianismus! Dieser Reflex also scheint es zu sein, der den Hauptgrund für ein „Kantjahr“ ausgerechnet zum 200. Todestag des Denkers liefert. Kant ist zum Halteseil und Rettungsanker in den Tiefen und Untiefen der Gegenwart geworden, die neue Begeisterung für Kant ist weniger genuin philosophisch als vielmehr religiös, vielleicht auch ersatzreligiös. Wer an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aus „aufgeklärten“, „wissenschaftlichen“ Gründen nicht mehr glauben mag und den Glauben trotzdem für notwendig und lebenskonstituierend hält, der glaubt an Kant. Wer der göttlichen Transzendenz in seinem Seelenhaushalt den Abschied gegeben hat und die dadurch entstandene Leere seriös ausfüllen will, der öffnet der Kantschen Transzendentalität die Tür. Das fällt enttäuschten Verwirklichern und Generalkritikern besonders leicht, weil auch der Kantsche Transzenden-talismus sich ausdrücklich und mit größter Emphase als Kritik verstand, als buchstäblich weltumstürzende, die Welt aus ihrem „dogmatischen Schlummer“ weckende Fundamentalkritik an allem und jedem. Nicht Adorno, sondern Kant war der erste, der seine Lehre und Schule als „Kritik“ bezeichnete. Im Zentrum seines Werkes, alle übrigen Schriften und Vorlesungen überstrahlend und einordnend, stehen die drei großen „Kritiken“: die „Kritik der reinen Vernunft“, die „Kritik der praktischen Vernunft“ und die „Kritik der Urteilskraft“. Kants Philosophie ist von A bis Z kritisch, Transzendentalität und Kritik sind identisch. Am Anfang sämtlicher Kantscher Kritiken stand die Skepsis, das Mißtrauen gegen einen allzu zutraulichen Erkenntnisoptimismus. David Hume, der schottische Meisterdenker, hatte diesen Optimismus just zur Zeit des jungen Kant dem zersetzenden Säurebad eines allumgreifenden „Agnostizismus“ ausgesetzt, hatte glaubhaft machen können, daß wir Menschen aus prinzipiellen Gründen nie und nimmer etwas Sicheres über die „Außenwelt“ jenseits unseres eigenen Bewußtseins wissen können. Kant nahm diesen Ball auf, stimmte Hume zu – und überstieg ihn gleichzeitig in sensationeller Weise. Wir können, dozierte er, gerade vom Standpunkt eines generellen Skeptizismus, ja Agnostizismus aus festen Boden für die Erkenntnis gewinnen, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Morallehre. „Synthetische Urteile a priori“, das heißt sinnlich angestoßene und unseren Wissensstand ausweitende Urteile mit zweifelsfreiem Wahrheitswert sind sehr wohl möglich. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß wir uns über die Struktur unseres Bewußtseins klarwerden. Wir müssen erkennen und akzeptieren, daß es unser Bewußtsein selbst ist, welches die sicheren, überprüfbaren Kriterien wissenschaftlicher bzw. moralischer Wahrheit spendet. Erstes Anliegen muß es folglich sein, diese inneren Kriterien freizulegen und „kritisch“ zu reinigen, respektive reinzuhalten. Der äußeren Welt, so Kant, nähern wir uns stets in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit, und der Mechanismus, mittels dessen wir die raumzeitlichen Phänomene, die „Perzeptionen“, verknüpfen, ist die Kausalität. Raum und Zeit sind aber keine „objektiven“ Gegebenheiten, sondern es sind grundlegende Anschauungsformen unseres Bewußtseins, unseres Verstandes. Ähnliches gilt für die Kausalität. Sie ist die im Verstand angelegte „Apperzeption“, aristotelisch gesprochen: eine „Kategorie“ des Verstandes. Die Außenwelt erscheint uns stets nur im Raster der Anschauungsformen Raum und Zeit und der Kategorie Kausalität. Ob es jenseits dieses Rasters noch ein „Ding an sich“ gibt und wie es möglicherweise beschaffen ist, wissen wir nicht. Synthetische Urteile fällen wir immer und ausschließlich innerhalb des Rasters der Anschauungsformen und Kategorien. Ein „kritischer“, nämlich von jederlei traditionell überkommenen oder individuell leichtfertig gefaßten Vorurteilen gereinigter Verstandesbetrieb genügte Kant also, um sicheren Erkenntnisboden zu gewinnen. Totalkritik, aber eben nur diese, konstituierte seiner Überzeugung nach jene „transzendentale“, „apriorische“ Sphäre, in der wir uns wirklich sicher fühlen und von der aus wir die Welt mit sicherem Griff zum Besten führen können. In dieser Gewißheit bestand Kants „Aufklärung“. Sie war letztlich, ganz im Stil der damals, seit dem siebzehnten Jahrhundert, aufblühenden Naturwissenschaft, mathematisch orientiert. Die Mathematik lieferte als einzige Wissenschaft spontan apriorische Urteile, doch das waren keine synthetischen, sondern analytische Urteile. Eins plus eins macht zwei. Dieses Urteil stand ein für allemal fest, es kam nichts mehr hinzu und es ging auch nichts mehr weg. Synthetische, erweiternde Urteile in den Rang apriorischer Analyse-Urteile, wie sie die Mathematik liefert, zu erheben und sie dadurch gewissermaßen waschfest zu machen, das war das Sehnsuchts-Anliegen des Kantschen Transzendentalismus, und es ist noch heute das Sehnsuchts-Anliegen der meisten Naturwissenschaftler. Ein Sachverhalt ist durchschaut und erledigt, wenn er auf eine mathematische Formel gebracht worden ist: an dieser Überzeugung hat sich für wissenschaftliche Normalverbraucher bis heute nichts geändert. Allgemeines Sittengesetz und kategorischer Imperativ Kant selbst sah die Begrenztheit dieses Konzepts von Anfang an ein, und aus dieser Einsicht ergab sich die zweite große Kritik, die „Kritik der praktischen Vernunft“. Für die praktische Vernunft, für das durch Moralprinzipien und ihre Befolgung angeleitete und ermöglichte gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, erkannte er, galten Raum, Zeit und Kausalität nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße. Denn das Zusammenleben setzte individuelle Freiheit, Willens- und Entscheidungsfreiheit, voraus, und das moralische Apriori stützte sich nicht auf mathematische Gesetze, sondern auf Imperative. Quellgrund und Rohrstock moralischen Verhaltens, so die Quintessenz der „Kritik der praktischen Vernunft“, ist nicht das mathematische Axiom, sondern das „Sittengesetz“, das Kant in der uralten „Goldenen Regel“ aller Moralphilosophie verkörpert sah: „Was du nicht willst, daß man dir tu, / Das füg auch keinem andern zu!“ Diese Goldene Regel erhob er zum „Kategorischen Imperativ“: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“. Das paßte (so glaubte jedenfalls Kant) wegen seines strikt formalen Charakters auf jeden beliebigen Inhalt, auf jede nur denkbare lebenspraktische Situation. Dieses „Sittengesetz in uns“ konnte es an „Erhabenheit“ ohne weiteres mit dem axiomatisch bewegten „Gestirnten Himmel über uns“ aufnehmen. Den frisch bekehrten Neukantianern des Jahres 2004, die ja fast durch die Bank linke Gleichmacher und Anhänger einer „Globalisierung von unten“ sind, gefällt am Kategorischen Imperativ natürlich besonders seine Anwendung auf das internationale Zusammenleben der Völker, wie sie Kant später in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (der Titel war ironisch gemeint) skizziert hat. Diese Skizze fiel freilich außerordentlich bedachtsam und vorsichtig aus; an sich läßt sich kein linker Honig aus ihr saugen. Keine Rede kann zum Beispiel davon sein, daß Kant die Souveränität der Staaten und Völker unterlaufen wollte, dergestalt daß selbsternannte Globalstrategen bestimmte Länder überfallen und im Namen angeblich allgemeingültiger Rechte gewaltsam zum „ewigen Frieden“ zwingen dürften. Fast das Gegenteil ist der Fall. Dennoch trifft auch auf Kant zu: „Die Epigonen plaudern die Schwächen des Meisters aus.“ Will sagen: Die Auslegungskünste der aktuellen Neukantianer machen einem das Unbehagen besser verständlich, das einen beim Durchstreifen der Kantschen Werke oft beschleicht. Es ist zu viel bloßes Sollen und zu wenig konkretes Sein in diesen Werken, zu viel Gleichheit und zu wenig Differenz, zu viel kaufmännische Rechenkunst und zu wenig wirkliches Leben, zu viel breite Straße und zu wenig Waldgang. Daran kann auch die dritte Kritik nichts ändern, die „Kritik der Urteilskraft“, in der Kant es unternahm, die über mathematisches Rechnen und moralisches Rechten hinausreichenden „sonstigen Vermögen“ des menschlichen Geistes auf ihre Apriorität und Transzendentalität hin abzuklopfen: das Gefühl, den Geschmack, die Phantasie, das dichterische Ingenium. Kant schrieb seine Werke ja mitten ins Zeitalter des auf breitester Front neu erwachten Gefühls hinein, in die Epoche Rousseaus und Richardsons und des deutschen Geniekults und Sturms und Drangs. Er mußte wohl oder übel davon Kenntnis nehmen, doch die Einordnung ins kritische Apriori gelang ihm nicht so recht. Schon der systematische Ansatz wirkt befremdlich. Kant betrachtet Gefühl, Phantasie usw. nicht als selbständige Äußerungen von Urteilskraft, sondern als jeweilige „Besonderungen“, als Einzelverhaltensweisen, die – nach dem Vorbild eines ordentlichen Gerichtsverfahrens – irgendwie unter das allgemeine Gesetz eingeordnet werden müssen. Es geht ihm darum, ein von vornherein gegebenes Allgemeines auf den konkreten Fall „anzuwenden“. Wie kann man das Besondere, das Einzelne überhaupt „denken“? Nun, sagt Kant, man kann es (also das konkrete Gefühl in einer jeweils konkreten Situation) denken, indem man es, ganz im Stil alter, vorkritischer Systematisiererei, zunächst einmal in „Lustgefühl“ und „Unlustgefühl“ aufteilt. Gefühl ist Lust, und zwar Lust auf Schönes, Gemütliches, Erhebendes. Während die „Kritik der reinen Vernunft“ auf das Wahre abzielte und die „Kritik der praktischen Vernunft“ auf das Gute, zielt die „Kritik der Urteilskraft“ auf das Schöne ab. Das Wahre, das Gute und das Schöne sind auch für den kritischen Kant, der hier ganz der traditionellen, seit Platon üblichen Einstellung folgt, eine Einheit, und so fällt es ihm nicht allzu schwer, das positive Gefühl als letztliche Lust auf Axiom, Symmetrie und Sittengesetz einzuordnen und zu adeln. Im Wege steht dabei allerdings das „Naturschöne“ und unser Lustgefühl beim interesselosen Beobachten beispielsweise eines prachtvollen Königstigers in voller Jagdaktion. Hier walten ja weder Symmetrie noch Sittengesetz, allenfalls (auf seiten des springenden Tigers) Zweckmäßigkeit in höchster Vollendung, die freilich dem gerissenen Opfer zum tödlichen Unheil ausschlägt. In der Welt des Lebendigen insgesamt, im Organischen, Tierischen und bei unseren eigenen spontanen Überlebensbedürfnissen, gibt es keine „Gesamt-Zweckmäßigkeit“, keine Symmetrie, kein Sittengesetz. Der eine frißt, der andere wird gefressen, der eine ist Zweck, der andere Mittel. Dem konkreten Leben rang Kant keine Gesetze ab Auch Kant, der ein guter Naturbeobachter war und viele Semester lang an der Universität Königsberg organische Naturgeschichte dozierte, sah das so. „Der Newton des Grashalms ist noch nicht gefunden“, seufzte er. Dem konkreten Leben rang er keine Gesetze ab, weder mathematische noch sittliche. Und das bezog er übrigens gleichermaßen auf die höchste Form menschlichen Gefühlslebens, nämlich auf das dichterische, überhaupt künstlerische, schöpferische Genie. Er weigerte sich, nach dem Vorbild Baumgartens und anderer Ästhetiker seiner Frühzeit den Künstlern Gesetze vorzuschreiben. „Das Genie schafft wie Natur“, konstatierte er – und meinte es nicht unbedingt positiv. Logischerweise stürzte sich die noch zu Kants Lebzeiten voll einsetzende Kritik an seinem Werk sofort auf jene „Leerstellen“, die seine eigene Kritik offengelegt und offen gelassen hatte: auf das Organische, auf die spontane Kreativität, verkörpert im Genie, auf das „Ding an sich“. Wie kann Kant, fragten etwa Friedrich Heinrich Jacobi und G. E. Schulze („Schulze-Aenesidemus“), guten Gewissens von einem „Ding an sich“ außerhalb von uns sprechen? Die sinnliche Wahrnehmung, die uns seiner Meinung nach den Stoff für synthetische Urteile liefert, wird ja von ihm als „Ursache“ der transzendentalen Synthesis angegeben, das heißt doch, die Kategorie der Kausalität wird ins Spiel gebracht! Wir bleiben bei solcher Argumentation strikt im Inneren des Verstandes. Der Hauptstrom der Kritik hielt sich allerdings nicht bei solchen dogmatischen Silbenstechereien auf, sondern deklarierte sofort die Identität von „Ding an sich“ und schöpferischer, gefühlshaft lebendiger Bewußtseinstätigkeit. Das aus der Tiefe seiner selbst heraus agierende „Ich“ (Fichte), die intuitive „unmittelbare Anschauung“ (Schelling), der organisch sich entwickelnde „Geist“ (Hegel) – das, hieß es nun, seien die eigentlichen Gegenstände moderner, vorwärtstreibender Philosophie, allein darauf komme es an. Ich, Geist und Intuition hatten einen direkten Draht zur Weltschöpfung insgesamt und zum Weltenschöpfer, sie bildeten – gesprochen im Sinne der gerade damals in den Blick des Abendlands rückenden indischen Tradition – das „Karman“ zum „Brahman“, sie hatten unmittelbar Anteil am schöpferischen Welttakt und mußten „nur“ einfühlsam und unendlich genau versprachlicht werden, um selber weltmächtig zu werden. Freiheit legt uns Verantwortung auf Solches damals im deutschen Idealismus und in der Romantik stattfindende Übersteigen Kants kann nicht mehr zurückgenommen werden, keine Form von „Neukantianismus“ kann das mehr auslöschen. Von hier führte der Weg zu den farbenreichen und machtvollen Strömungen des Historismus, der Lebensphilosophie, des an Nietzsche und Heidegger orientierten Pragmatismus und Existentialismus. Selbst der dogmatische Kern der neuzeitlichen Naturwissenschaften, das Denken in angeblich „letzten“ Teilchen und sie „mechanisch“ bewegenden Gesetzen, geriet ins Wanken, löste sich auf in Wahrscheinlichkeiten, „flavours“, „colours“. Der nachkantische Pragmatismus griff schließlich auch auf die lange positivistisch gebliebene angelsächsische Tradition über, brachte Gestalten wie Charles Peirce und William James hervor, bescherte der unverdrossen mathematisch kalkulierenden „Analytik“ den „linguistic turn“, wo die Versprachlichung wichtiger wurde als die mathematische Formel. Während sich manche gegenwärtige deutsche Lehrstuhlinhaber in mitunter fast sklavischer Weise an der angelsächsischen Analytik ausrichten, löst sich diese selbst auf, und zwar in Richtung Hegel, Nietzsche, Heidegger, Historismus, Biologismus und Pragmatismus. Die „Kritik“ Kants, die – genau betrachtet – ein letzter Rettungsversuch für den alten, frühneuzeitlichen, mathematisch-mechanisch ausgerichteten abendländischen Dogmatismus war, verblaßt. Es bleibt aber ein Kantsches Minimum, an dem keine moderne Geistesrichtung mehr vorbeikommt und das heute gewissermaßen zum Weltkulturerbe gehört. Dazu zählen in erster Linie die Lehre von den Anschauungsformen Raum und Zeit und die Lehre von der Apriorität des Sittengesetzes. Daß wir die Sachverhalte der Außenwelt nicht „objektiv“ erfassen können, daß unser ganzer Erkenntnisapparat von der Evolution im Sinne effektiver Überlebensstrategie vorgebildet ist und wir nur unter akuter Absturzgefahr für Individuum und Gattung über unseren, uns von der Evolution, von der Natur angehängten Schatten hinwegspringen können – diese notwendige Einsicht haben wir Kant zu verdanken. Und auch folgende Einsicht haben wir Kant zu verdanken: Der Mensch ist in seinem Wollen und Entscheiden frei, just das macht sein differentium specificum, sein Gattungsmerkmal aus, just das unterscheidet ihn von der übrigen lebendigen Kreatur. Wir dürfen daraus keine überheblichen Schlüsse ziehen, dürfen uns nicht als Herr und Richter der Welt aufspielen und nicht versuchen, unseren Willen anderen aufzuzwingen, seien sie nun Mitmensch oder Tier. Aber wir sind frei, und die Freiheit legt uns Verantwortung für unsere Taten auf. Kant hat dies in einem wahrhaft allgemeinen Sinne zu Papier und zur Rede gebracht, unwiderlegbar und akzeptabel für Modernisten wie Traditionalisten, Gläubige wie Ungläubige. Dafür gehört er ins ewige Pantheon. Im übrigen war sich dieser gewaltige und doch in jeder Geste seines Wesens so liebenswerte Denker über eines immer klar: eine Philosophie ist nur so lange gut, bis die bessere kommt. Daher sein bescheiden-stolzes Wort: „Widerlegt zu werden ist keine Gefahr, wohl aber, nicht verstanden zu werden.“

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