Wer je das Vergnügen hatte, einen Vortrag von Hermann Lübbe zu hören, wird nicht nur die Eloquenz bewundert haben, sondern auch den Habitus des Redners. Das gilt zumindest für Konservative. Lübbe hat etwas Britisches an sich, in der Kleidung, in der Verhaltenheit der Gesten und noch im freundlichen Spott, etwas von jener gentlemanliness, die Konservative so schätzen. Allerdings verführt der angenehme Eindruck Konservative auch dazu, Lübbe als einen der ihren zu betrachten – und damit gehen sie fehl. Lübbe hat die Zuordnung zum konservativen Lager nie akzeptiert, mit guten Gründen, wie man auch dem neuesten seiner Aufsatzbände entnehmen kann. Der wichtigste dieser Gründe ist ein prinzipieller Optimismus im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung, der nicht konservativ ist, sondern liberal. Nur steht Lübbe den Konservativen als „Bremse am Wagen des Fortschritts“ (John Stuart Mill) mit mehr Wohlwollen gegenüber als andere Liberale. Es ist ein gönnerhaftes Wohlwollen, geprägt von der Überzeugung, daß Moderne und Aufklärung in jedem Fall den Gang der Dinge bestimmen, wenngleich es behaglicher wirkt, deren Kälte durch Bestände aus Kultur, Ethik und Religion zu temperieren. Die Volte, mit der Lübbe diese drei Größen als „Modernisierungsgewinner“ vorstellt, überrascht kaum noch, man kennt die Argumentation aus früheren Arbeiten: Gerade der Traditionsabbruch und die Säkularisierung, so Lübbe, haben es dem Individuum erlaubt, sich Überlieferungen oder Glaubensvorstellungen mit neuer Unbedingtheit zuzuwenden. Da sie jetzt keine allgemeine Verbindlichkeit mehr beanspruchen, weder als vollständige Weltmodelle noch als Grundlagen politischer Machtausübung gelten, könne ihr ideeller Kern auf ganz neue Weise bedeutsam werden. Diese Entfaltungsmöglichkeit will er unbedingt als Gewinn verstehen und verteidigt seine Auffassung ausdrücklich gegen jenen Aufklärungsfundamentalismus, der alles abräumt, was nicht gute, also rational vertretbare Gründe für seine Existenz vorweisen kann. Zu den „aufgeklärten Begründungstotalitaristen“ rechnet Lübbe eine Gruppe von Denkern, die Kant ebenso wie Habermas umfaßt. Der setzt er die angelsächsischen Common-sense-Philosophie entgegen, die seit Hume die Auffassung vertrat, daß der „gesunde Menschenverstand“ eine hinreichende Basis für das Verständnis der Wirklichkeit biete und jedenfalls vor den Machtansprüchen herrschsüchtiger Philosophen oder philosophietüchtiger Herrscher bewahre. Das Vertrauen in die Fähigkeit des gemeinen Mannes hat, folgt man Lübbe, nicht nur jede Menge antiquarischer Neigung freigesetzt, die sich in der ständig erweiterten Denkmalsmenge auswirkt, sondern überhaupt eine systematische Erinnerungspflege erlaubt, die die Desorientierungsfolgen der Modernisierung auffangen hilft. Im Hinblick auf die Religion ist der Erfolg sogar noch überraschender, insofern es gelang, alle möglichen Sondergruppen mit ausdrücklich aufklärungsfeindlicher Grundhaltung – gemeint sind vor allem die christlichen Sekten, die seit dem 17. Jahrhundert nach Nordamerika auswanderten – zu Trägern eines umfassenden Freiheitsverständnisses zu machen. Sie alle lernten, im Bewußtsein der eigenen Bedrohung durch Mehrheitsüberzeugungen die Verfassungsrechte entschlossen zu verteidigen. Lübbe glaubt, daß die im Vergleich zu Europa größere religiöse Vitalität, aber auch die aus seiner Sicht segensreiche Wirkung der „Zivilreligion“ in den USA auf denselben Zusammenhang zurückgeführt werden könnten. So erfreulich die Diagnose Lübbes in vielem wirkt, man möchte ihr nicht zustimmen. Er selbst weist auf den Islamismus hin, der sich dem Gesellschaftsmodell nicht einfügt, das alle dogmatischen Unterschiede neutralisiert. Tatsächlich funktioniert das amerikanische Konzept nur unter Bedingungen, die sehr selten zusammentreffen: der zahlenmäßigen Marginalität der verschiedenen Sekten, dem in ihren Reihen verbreiteten Pazifismus und der Möglichkeit, das Sendungsbewußtsein der Gesamtnation durch imperiale Ausdehnung hinreichend abzusättigen. Was es für die Binnenwirkung der Zivilreligion bedeutet, wenn sich deren Charakter als Schwundform des Christentums immer nachhaltiger in Frage gestellt sieht, bleibt abzuwarten, wird von Lübbe aber kaum als Problem zur Kenntnis genommen. Lübbes Wahrnehmungsschwäche im Hinblick auf den Ernstfall ist nicht überraschend, sondern ein wesentliches Merkmal seines Denkens und einer der Gründe seines Erfolgs als Wissenschaftler wie als Publizist. Den in diesem Sammelband enthaltenen Aufsatz, in dem Lübbe einige Bemerkungen über seine Herkunft aus der Schule des Philosophen Joachim Ritter macht, könnte man um einen wesentlichen Aspekt ergänzen: von den Schülern Ritters haben drei ihren intellektuellen Mut und ihren Angriffsgeist mit einer weitgehenden Marginalisierung bezahlt – Bernard Willms, Reinhart Maurer und Günter Rohrmoser -, während es zwei anderen gelang, dem Löcken wider den Stachel etwas Spielerisch-Unernsthaftes zu geben und deshalb wohlgelitten zu bleiben: der eine ist Odo Marquard, der andere Hermann Lübbe. Hermann Lübbe: Prinzipieller Optimismus im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung Hermann Lübbe: Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral. Wilhelm Fink Verlag, München 2004, 211 Seiten, gebunden, 27,90 Euro