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Marc Jongen, ESN Fraktion

Pankraz, W. von Humboldt und der pädagogische Eros

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Gute Universitäten ("Elite-Universitäten") müssen sich ihre Studenten aussuchen dürfen – an sich eine Selbstverständlichkeit, die im neuen Deutschland allerdings verboten ist. Dabei wäre dieses freie Aussuchen erst der Anfang eines sich im Laufe des Studiums immer weiter ausdifferenzierenden Selektionsprozesses, wie er in früheren Zeiten ebenfalls selbstverständlich war. Ein guter Student (ein "zur Elite tauglicher" Student) lernt im Laufe der Semester nicht nur dies und das, sondern er unterwirft sich von Anfang an strenger Selektion, das heißt er wird, bevor er zum Magister und Doktor aufsteigen kann, erst einmal zum "Schüler" gemacht, in des Wortes anspruchsvollster Bedeutung.

Was sind Schüler in der üblichen Wortbedeutung? Jungen und Mädchen, die zur Schule gehen und sich danach sehnen, den Schülerstatus so bald wie möglich hinter sich zu bringen. Was ist ein "Schüler" in der anspruchsvollen Wortbedeutung? Ein junger Studierender, der aufgrund seiner exzellenten Seminarbeiträge, seiner Aufgewecktheit und seines Elans bei einem erstklassigen Professor ("Elite-Professor") auffällig wird, dessen Vertrauen gewinnt und peu à peu voll in dessen Forschungsarbeit eingeweiht wird, sich gewissermaßen mit ihm verheiratet.

In der "modernen" deutschen Massenuniversität gibt es dieses klassische (platonische, humboldtsche) Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht mehr. Der Professor hat dort ein staatlich auferlegtes umfängliches "Lehr-Deputat" zu absolvieren und steht im Hörsaal einer kompakten Masse aus Mittelmaß gegenüber, die sich auch noch ins Proseminar hinein fortsetzt, jede Begabtenauswahl horrend erschwerend. Die Sehnsucht des Professors liegt längst jenseits der Lehrveranstaltungen, in der "reinen Forschung". Er strebt aus der Universität hinaus, hin zu studentenfreien Akademien und Instituten, wo er sich "dem Eigentlichen" widmen kann.

Aber dies "Eigentliche", die Wissenschaft nämlich, ist ohne Lehre und ohne pädagogischen Eros gar nicht zu haben. Noch im allersachlichsten chemischen oder biologischen Forschungslabor wird ununterbrochen gelehrt und gelernt, wenn natürlich auch auf höherer Ebene als im Einführungskolleg. Der Forschungsleiter muß sich auf seine Assistenten und Praktikanten verlassen können, er muß sie sich aussuchen dürfen, er muß sie mit seinen Intentionen intim vertraut machen, das heißt er muß sie lehren, und sie müssen von ihm lernen. Nur so entstehen Eliten, effiziente Eliten, die faktisch immer festgefügte Lehrer-Schüler-Verhältnisse sind.

In produktiven Wissenschaftszeiten (in Deutschland neunzehntes und erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts) ruhte der Ruf eines Hochschullehrers nicht zuletzt auf der Anzahl und der Eminenz seiner Schüler, und umgekehrt. "Er ist ein Curtius-Schüler", "er ist ein Heisenberg-Schüler", "er ist ein Heidegger-Schüler" – solche Charakterisierungen verschafften von vornherein Respekt, und sie garantierten auch Qualität (Ausnahmen bestätigten nur die Regel). Manchmal stifteten gelungene Lehrer-Schüler-Verhältnisse richtige Traditionen, "Schulen", die sich über viele Generationen fortsetzten und zum Wichtigsten gehörten, was eine Nation anderen Völkern zu bieten hatte.

Heute gilt auch in Deutschland – nach schlechtem amerikanischen Vorbild – als faktisch einziger Elite-Nachweis für einen Hochschullehrer die Devise "publish or perish" (publiziere oder gehe unter). Angeblich wird dadurch der Elitestatus der Wissenschaft konsolidiert und "objektiviert", doch in Wahrheit geschieht das Gegenteil. Masse verdirbt auch hier Klasse. Der Standard wissenschaftlicher Veröffentlichungen verfällt zusehends, weil viele Beiträger nur noch am "Daß" der Publikation interessiert sind, nicht mehr am "Was". Jargon nimmt überhand, Rhetorik überwuchert die Sachverhalte.

Die wachsende Zahl hochpeinlicher Vorfälle im wissenschaftlichen Publikationsbetrieb spricht Bände. Immer häufiger kommt es zu Pseudo-Erkenntnissen, die keiner gediegenen Nachprüfung standhalten, zu Durchstechereien und dreisten Plagiaten, ja, zu planvollen Fälschungen, wo der im Jargon vorgetragene Wortschwall über die lügnerischen Aussagen hinwegtäuschen soll. Ein Geist gegenseitigen Mißtrauens und Argwohns ist in nicht wenige Forschungs-Institute eingezogen, einer belauert den anderen und gönnt ihm nicht den kleinsten Brocken an Erkenntniszuwachs.

Auf das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wirkt sich die neue Lage verhängnisvoll aus. Dieses Verhältnis ist ja nie unbedroht, auch in günstigeren Zeiten als den gegenwärtigen nicht. Es lauert die Gefahr der Verknöcherung einer Lehrmeinung oder einer Methodologie und daß man im eigenen Saft vor sich hinschmort, die Gefahr des Zerwürfnisses zwischen Lehrer und Schüler, Alt und Jung. Der Schüler macht oft eine Art Pubertät durch, wo er alles besser weiß, sich "dem Alten" haushoch überlegen fühlt – und manchmal tatsächlich mit frischem Blick die genaueren Perspektiven gewinnt. Nicht selten kommt es zu Zerwürfnissen, denen freilich auf Seiten des Schülers in der Regel nach einiger Zeit eine "postscholare Treue" (Hans Maier) folgt.

Nur wer einst ein begeisterter und loyaler Schüler gewesen ist, kann später selber zum Lehrer aufsteigen. Und nur wer als Lehrer mit Sorgfalt und aus Überzeugung Schüler pflegt, sie sorgfältig aussucht, anleitet und neidlos fördert, kann ein guter Wissenschaftler sein. Der Weg zur Elite-Universität führt nicht über eine anti-platonische, anti-humboldtsche Trennung von Forschung und Lehre, sondern über deren Wiedervereinigung und Befestigung jenseits von Massenbetrieb und jenseits von bloßem, kurzbeinigem Nützlichkeitsdenken.

"Schlecht steht es um den Schüler, der seinen Lehrer nicht überflügelt", pflegte Leonardo da Vinci zu sagen. Er hatte leicht reden. Zu seiner Zeit fand sich keiner mehr, der ihm je auch nur das Wasser hätte reichen können.

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