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Pankraz, Paul Virilio und der Schrecken in der Stadt

Pankraz, Paul Virilio und der Schrecken in der Stadt

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Pankraz, Paul Virilio und der Schrecken in der Stadt

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Einige haben es kommen sehen, aber daß das Urteil so harsch ausfallen würde, ist doch eine Überraschung. "Ville panique", panische Stadt, Schreckensstadt, heißt der jüngste Essay von Paul Virilio, dem philosophierenden französischen Architekten und Urbanisten (Verlag Galilée, Paris 2004), und was man zu lesen bekommt, ist wirklich der Schrecken in Reinkultur. Virilio setzt schlicht ein Gleichheitszeichen zwischen Stadt und Schrecken. Der Schrecken ist für ihn nur eine andere Bezeichnung für das, was man meistens "Stadt" nennt.

Um die Fallhöhe solcher Behauptung zu ermessen, muß man sich daran erinnern, daß der Name "Stadt" jahrhundertelang, ja, jahrtausendelang identisch war mit Schutz, Behütetsein, Abwesenheit von Schrecken. Die gewaltigen Mauerwerke Babylons, der "Ur-Stadt", machten es uneinnehmbar. Nur Verrat von innen konnte die "große Hure" (wie Babylon bei seinen Feinden hieß) der Wut eventueller Angreifer ausliefern. Kriege spielten sich jenseits der Mauern ab. Gegen Hungersnöte schützte man sich mit prall gefüllten Vorratshäusern, gegen innere Unruhen mittels einer wohlorganisierten Polizei.

Der erste große Einbruch kam mit den Bomberflotten des zwanzigsten Jahrhunderts, die ihre tödliche Fracht vorzugsweise über den großen Städten abluden; Virilio hat darüber in früheren Essays geschrieben. Der Krieg hielt in die Stadt Einzug, der Schrecken setzte einen Fuß in die Tür. Doch er blieb temporär, auf die Dauer des jeweiligen Krieges beschränkt.

Erst jetzt, im Zeichen des Terrors, hat sich das geändert. Der Schrecken ist zur Dauereinrichtung geworden, und sein "angestammtes Schlachtfeld", sagt Virilio (und hat natürlich recht), ist die Stadt, während das sogenannte flache Land sich gewissermaßen "entschrecklicht", zum bloßen Durchzugsgebiet für Truppen wird. Je "weiter draußen" einer heute wohnt, um so sicherer ist er.

Moderner, "asymmetrischer" Krieg ist innerstädtischer Häuserkampf, ob er nun von "Terroristen" oder "regulären Truppen" geführt wird. Und wenn es nicht um bzw. gegen Häuser, Wohnhäuser, Bürohäuser, Theater, Diskotheken geht, dann geht es um innerstädtische Verkehrsmittel, um U-Bahnen und S-Bahnen, um Omnibusse und städtische Versorgungs- und Informationsnetze. Oder es geht gegen Stadtbewohner, die auf Märkten, an Haltestellen oder vor Straßencafés in die Luft gejagt werden. Die Möglichkeiten, die die Stadt dem eingenisteten Schrecken bietet, sind faktisch unbegrenzt.

Und schlimmer noch: Gerade das spezifisch Städtische, also das in Erinnerung an einstige Wohlbehütetheit sorglose Flanieren, Zusammensitzen, U-Bahnfahren usw., übt eine fast magische Wirkung auf "Krieger" jeglicher Couleur aus. Diese wissen ja, daß man an ihresgleichen nur schwer herankommt; "Krieger" sind über und über gepanzert und jederzeit voll abwehrbereit, oder sie sind gar nicht mehr wahrzunehmen, operieren von vornherein aus dem Dunkeln heraus. Dagegen bietet sich der zivile, schutzlose Stadtbürger dem tödlichen Erstschlag geradezu an, er ist für die "Krieger" wie eine Weihnachtsgans, die man jederzeit schlachten kann. "Stadtluft macht frei", hieß es in früheren Zeiten. Heute müßte es heißen: "Stadtluft macht schlachtreif".

Je mehr Weihnachtsgänse an einem einzigen Tag geschlachtet werden, um so höher ist der Ertrag, nämlich das "Medienecho". Unheimlich zu beobachten, wie den Fernsehkonsumenten schon nur noch die pure Quantität der jeweils Getöteten zu interessieren scheint. "Wie viele waren es diesmal?" Das ist die Frage, die mittlerweile nach Bekanntwerden eines Anschlags zuerst gestellt wird, und die Medien beantworten sie eifrig, wissen sie doch, daß der "Nachrichtenwert" nicht zuletzt von der Anzahl der Opfer abhängt.

Welche mentalen und politischen Folgen sind zu gewärtigen, wenn sich die Städte immer mehr in Zonen des Schreckens verwandeln? Virilio, der beim Schreiben seines Essays die spanischen Wahlen nach den S-Bahnanschlägen von Madrid vor Augen hatte, konstatiert eine Verwandlung der "démocratie d’opinion", der Meinungsdemokratie, zur "démocratie d’emotion", der Stimmungsdemokratie. Das ist etwas dürftig, zumal man sich durchaus fragen darf, ob denn die bisher herrschende Demokratieform wirklich eine Meinungsdemokratie gewesen ist oder nicht längst und vielleicht sogar von Anfang an eine Stimmungsdemokratie. Gibt es überhaupt eine Meinung ohne voraufgehende Emotion?

Irgendwie steht es dem Stadtbewohner im eigenen Ermessen, von welcher Stimmung er sich angesichts der neuen Lage leiten läßt. Er kann auf den Dauerschrecken mit Dauerpanik reagieren, sich, wenn er die Mittel dazu hat, aufs flache Land verkrümeln, sich nicht mehr ins Theater oder in die Diskothek trauen, Straßencafés meiden, so wenig wie möglich U-Bahn oder Omnibus fahren. Am Ende stünde dann die volle Auflösung dessen, was man früher unter "Stadt" verstanden hat, die beschleunigte Verwandlung von Stadt in eine beliebige Häuser-Agglomeration ohne urbanen Geist und Zusammenhalt.

Er könnte freilich auch mit stolzem Trotz und stoischem Gleichmut reagieren, und die Medien könnten ihm dabei helfen. Wenn bei denen der jaulende Ton der Panikmache um der Quote und der Verkaufszahlen willen deutlich abflaute, wäre schon viel gewonnen. Der moderne asymmetrische Krieg ist zu einem großen Teil ein Krieg um Bilder und Sensationsgeschrei. Er kann – theoretisch zumindest – regelrecht ausgehungert werden, indem man die Bilder und das Geschrei entwertet, einfach nicht mehr auf sie reagiert.

Aber nicht nur die Medien, auch andere Mächtige sind in erster Linie gefragt. "Wenn die Gewaltigen klug sind, gedeiht die Stadt", heißt es in der Bibel (Jesus Sirach 10,3). Oder, mit dem Urbanisten Virilio zu sprechen: "Eine gute Stadtverwaltung kann viel Panik ersparen."

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