In der neuen Lettre klagt George Steiner über die "Müdigkeit" der Völker Europas. Europa sei "maßlos müde", und dies sei der Grund für den kulturellen, demographischen und politischen Niedergang dieses Asienzipfels. Steiners Urteil stimmt merkwürdig überein mit einem – sehr schönen – Ghasel des blutjungen Hugo von Hofmannsthal, der schon vor hundert Jahren, in der Hochzeit des europäischen Imperialismus, dichtete: "Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, / Noch weghalten von der erschrockenen Seele".
Aber können denn ganze Völker ermüden, so daß sie kaum noch die Augen aufhalten und den Gang der Dinge nur noch wie durch einen Schleier wahrnehmen? Völker können überheblich werden oder kollektiv niedergeschlagen, sie können ausgerottet, zerstreut, in die Wüste getrieben werden oder sich selber ausrotten, indem sie keine Kinder mehr kriegen – doch ermüden?
Ermüdung hätte ja zur Folge, daß sie schließlich in Schlaf verfielen, ihre Handlungen und ihren Stoffwechsel auf ein Minimum reduzierten und sich völlig wehrlos machten, in der Hoffnung, eines Tages erquickt wieder aufzuwachen und dann um so kraftvoller in die Weltgeschichte einzugreifen. So etwas klingt allzu schön, um wahr zu sein. Pankraz fällt jedenfalls kein historisches Beispiel ein, das hier Anwendung finden könnte.
Historische Völker, deren schöpferische Kräfte versiegten oder definitiv gefesselt wurden, ohne daß sie physisch ausgelöscht worden wären, verfielen danach nicht in Schönheits- bzw. Erholungsschlaf, sondern sie wurden von anderen Kräften allmählich aufgesogen und assimiliert, respektive marginalisiert und in einen Helotenstatus gedrängt. Schlafende Völker gibt es nicht, Müdigkeiten gehen für sie immer tödlich aus, es sei denn, sie reiben sich rechtzeitig die Augen und rappeln sich wieder auf. Wenn Steiners Befund mehr sein soll als lyrische Metapher à la Hofmannsthal, dann meint er nichts anderes als dies: Europa ist am Ende, seine Völker können sich ins Grab legen.
Tatsächlich spricht manches für eine solche Diagnose. Europa gleicht immer mehr dem blinden Faust bei Goethe, der dem eifrigen Schaufeln und Hämmern der Lemuren lauscht und glaubt, sie errichteten auf sein Geheiß die großartigsten Dammbauten, während sie in Wirklichkeit Fausts Grab ausheben. Es wird mächtig geschaufelt und noch mehr projektiert: Ost-Erweiterung, EU-Verfassung, Aufnahme der Türkei, doch das ganze Treiben läuft eindeutig auf Identitätsverlust und auf politischen Selbstmord hinaus.
Der Tag ist absehbar (und wohl sogar ziemlich nahe), an dem Europa nichts weiter mehr sein wird als ein sich selbst lähmendes, zu eigenen politischen Entscheidungen unfähiges Operationsglacis der USA, ausgestattet mit einer gegen jedes internationale Bordell austauschbaren Massenkultur.
Das, was George Steiner für Müdigkeit hält, ist, bei Lichte betrachtet, wohl eher Dummheit und Fremdbestimmung, wie sie immer mal wieder im Reich des Lebendigen vorkommen. Es gibt da zum Beispiel den in Schafen lebenden Leberegel (dicrocoelium dendriticum), der seine Eier um einige Ecken herum in Ameisen praktiziert. Daraus schlüpfen Larven, und diese Larven wandern ins Gehirn der Ameisen, übernehmen dort das Kommando und veranlassen das "Gasttier", auf die Spitze von Grashalmen zu klettern und dort in Müdigkeit, d.h. in Hypnose, hocken zu bleiben, bis sie von weidenden Schafen gefressen werden. Den Ameisen nützt das nichts, sie begehen Selbstmord, aber dem Leberegel nützt es, denn er lebt eben in den Schafen und von ihnen.
Die fleißigen, nun angeblich müden Völker Europas ähneln frappant jenen vom Leberegel befallenen Ameisen. Europas politische Klasse hingegen hat offenbar den Part des Leberegels übernommen, der in den Schafen lebt, aber die Ameisen braucht, um von einem Schaf ins andere zu kommen. Alles, was diese Klasse zur Zeit mittels der Medien ihren Völkern nahelegt, läuft auf Selbstmord unter Hypnose hinaus. Ist es auch keine Müdigkeit, so sollte man es trotzdem nicht weghalten von der erschrockenen Seele. Die Seele hat hier wahrhaftig allen Grund, zu erschrecken und die Lider aufzureißen.
Die New York Times brachte kürzlich einen sehr bemerkenswerten, sanft sarkastischen, aber auch irgendwie melancholischen Essay von Niall Ferguson über die Probleme des "alten Europa", der in die Beobachtung mündete, daß dort die muslimischen Zuwanderer bereits eifrig dabei seien, die "demographische Leere" auszufüllen und eine neue Vision von Europa an die Wand der Geschichte zu projizieren: "Eurabia". Europa werde im Augenblick gerade "neu erfunden", und es sei ein islamisches Europa jenseits aller Müdigkeit: kinderreich, gottgläubig, von eigenständigem politischen Willen erfüllt. Amerika müsse sich darauf einstellen.
Die augenblickliche Terrorhysterie, schreibt Ferguson, verdecke nur, daß das "alte Europa" der Heraufkunft "Eurabias" nichts entgegenzusetzen habe. Seine Frauen wollten nicht mehr Mütter sein, seine kulturellen Eliten nicht mehr Christen, seine Politiker nicht mehr Abendländer. Man könne schon jetzt davon ausgehen, daß das Kraftzentrum des neuen Europa – nach der mit Sicherheit kommenden Aufnahme der Türkei und Israels in die EU – nicht mehr in Paris oder Berlin liegen werde, sondern in Ankara und Jerusalem.
Fergusons Analyse klingt recht exakt, allerdings macht er seine Rechnung nur mit den Leberegeln und mit den Schafen; die Ameisen rücken nicht ins Bild. Ist das realistisch? In der Natur im ganzen verhält es sich so, daß weder die Egel noch die Schafe dominieren, vielmehr die Ameisen, deren sogenannte Biomasse die aller übrigen Tiere um ein Vielfaches übersteigt. Das sollten speziell Politiker im Auge behalten. Wer von der Mehrheit gewählt werden will, darf nicht nur Rücksicht auf Schafe nehmen.