Er ist der wohl größte Sohn Breslaus, alle Schlesier sind stolz auf ihn, obwohl er sichtbar aus der spezifischen schlesischen Geistestradition, der Zone der dunkel inspirierten Mystiker und der großen tragischen Barocklyriker und des "cherubinischen Wandersmanns", herausfällt: Christian Wolff (1679 bis 1754), dessen 250. Todestag am 9. April völlig im Schatten des Kantjahrs liegt. Dabei war Wolff, bevor Kant kam, der unbestrittene Chefdenker des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eine europäische Berühmtheit, dessen Lehren die Epoche prägten.
Während die anderen philosophischen Größen der Barockzeit, Hobbes, Locke, Leibniz, Hume, Voltaire, als höfische Herren, als Fürstenberater und freie Schriftsteller agierten, war Wolff vom Anfang seiner Berufslaufbahn an und sein ganzes langes Leben hindurch Universitätsdozent und nichts als Universitätsdozent, Professor, Lehrstuhlinhaber und Lehrplanorganisator, zuerst in Halle, später in Marburg, danach wieder in Halle. Seine Bücher waren alles Lehrbücher, Paukbücher, bestimmt für den studentischen Hausgebrauch, sie fingen alle mit den Worten "Vernünftige Gedanken von …" an: "Vernünftige Gedanken von den Kräften des Verstandes", "Vernünftige Gedanken von Gott", "Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben" usw. usw.
Wenn jemand das Bild des "typischen Deutschen", des gründlichen, organisatorisch begabten, aber auch pedantischen Schulmeisters, geprägt hat, dann Wolff. Mit ihm ging der genuin deutsche Universitätsbetrieb eigentlich erst los, denn Wolff dozierte und schrieb seine Bücher auf deutsch. Nach Luther hat niemand das Deutsch der gelehrten Stände mehr geprägt als Wolff, er erfand die deutsche Gelehrtensprache geradezu, indem er für die überkommenen lateinischen Ausdrücke deutsche Entsprechungen prägte, die sich bis heute gehalten haben. Eine epochale Leistung.
Im Konzert der damaligen "Aufklärung" spielte Wolff, anschließend an Leibniz, aber ohne dessen Genialität und Ambivalenz, den Part des strikten Idealismus. Während die englischen Aufklärer überwiegend "Empiristen" waren, die alles Heil in der sinnlichen und praktischen Erfahrung sahen, und während die Franzosen mit revolutionärem Elan auf einen groben Klötzchen-Materialismus à la Lamettrie zusteuerten, setzte Wolff an den Anfang aller Erkenntnis "die Vernunft". Und die Vernunft bot sich ihm dar als eine schlichte "Logik des Möglichen", welche also identisch sein sollte mit "der Wissenschaft".
Möglich ist, lehrte Wolf, was keinen Widerspruch enthält. Es kann nicht etwas sein und gleichzeitig nicht sein. Wessen Gegenteil sich widerspricht, das ist notwendig. Wessen Gegenteil ebenso gut möglich ist, ist zufällig. Alles, was möglich ist, ist ein Ding, wenn auch nur ein eingebildetes; was weder ist noch möglich ist, ist nichts. Wenn ein Ding A etwas enthält, woraus man verstehen kann, warum ein Ding B ist, so ist dasjenige in A, woraus B verstanden wird, der Grund von B. Das den Grund enthaltende ganze A ist die Ursache. Raum ist die Ordnung der Dinge, die zugleich sind; Ort die bestimmte Art, wie ein Ding mit allen übrigen zugleich ist. Bewegung ist Veränderung des Ortes. Zeit ist die Ordnung dessen, was aufeinander folgt.
Und so weiter und so fort. Mit einer Gelassenheit (und Penetranz) ohnegleichen schreitet die Wolffsche Philosophie von einer "vernünftigen" Bestimmung zur anderen, erreicht und durchdringt die Psychologie, die Gesellschaftslehre, die Ethik, die Ästhetik, verwandelt alles peu à peu in ein großes, in schöner Übersicht zusammenhängendes "System der Vernunft" – ohne ein einziges Mal danach zu fragen, ob denn die Wirklichkeit sich diesem System auch fügt. Solche Gelassenheit hat schon damals manche Zuhörer schier rasend gemacht und mitunter in ätzenden Hohn verfallen lassen, so Voltaire in seinem "Candide".
Kant schritt dreißig Jahre später zu einer umfassenden "Kritik der reinen Vernunft" und setzte damit Wolff schachmatt. Stürmer, Dränger und Romantiker hatten dann für den Breslauer nur noch Verachtung übrig, sahen in seinen Dozenturen nichts als die Ideologie der deutschen Kleinstaaterei und der spießbürgerlichen Zipfelmütze. Selten ist ein in seiner Art großer und unbestreitbar verdienstvoller Mann von der Nachwelt so ins Abseits gestellt worden wie Christian Wolff.
Was positiv im Gedächtnis blieb, ist das dramatische akademische Schicksal Wolffs, das ihn in Halle ereilte und das freilich von seinen Lehren gar nicht zu trennen ist. Den in Halle geballt zusammenhockenden und mächtigen Pietisten um August Hermann Francke war der erfolgreiche Philosoph ein Dorn im Auge, und so hetzten sie den gleichfalls pietistisch gesinnten, bigotten Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. gegen Wolff auf und erwirkten eine Kabinettsorder, der zufolge er innerhalb 48 Stunden seinen Lehrstuhl und die preußischen Lande zu verlassen habe, andernfalls sei er "dem Strang" verfallen.
Das geschah Ende 1723. Wolff rettete sich nach Marburg und erhielt dort ehrenvolles Exil und Lehrbefugnis, bis ihn der junge, aufgeklärte König Friedrich (der Große) sofort nach seinem Regierungsantritt 1740 in spektakulärster Weise nach Preußen zurückrief, ihm seinen Hallenser Lehrstuhl zurückgab und ihn zum Reichsfreiherrn erhob. Widersacher Francke, der nach Wolffs Vertreibung Gott auf Knien dafür gedankt hatte, war bereits 1727 verstorben.
Als Christian Freiherr von Wolff 1754 selber starb, wurde er mit größten Ehren zu Grabe getragen. Seine Schüler, Gottsched in Leipzig, Alexander Baumgarten in Frankfurt/O., Friedrich Nicolai und Moses Mendelsohn in Berlin, waren groß im Kommen. Und sein späterer Überwinder, Kant, pries ihn in Königsberg als "den Urheber des guten Geistes der Gründlichkeit".